Thomas Susanka

Die Schuhe von van Gogh: Ambiguität vs. Unspezifität im Bild

Abstract: Traditionell befasst sich die Ambiguitätsforschung mit der Lautsprache, und die maßgeblichen Beiträge stammen aus den Sprachwissenschaften. Doch auch in der jüngeren bildwissenschaftlichen Forschung wird der Ambiguität mitunter eine zentrale Rolle zugeschrieben. Ambiguität wird dabei als Kernproblem in der Kommunikation mit Bildern und als Schlüssel zum Verstehen von Bildern beschrieben. Wenn man aber das Spektrum der Phänomene betrachtet, das hier unter dem Schlagwort der Ambiguität zusammengefasst wird, fällt auf, dass dieses häufig das Fassungsvermögen des Begriffs weit übersteigt. Ambiguität wird dabei oft synonym zu ‚interpretationsoffen’ verstanden. Die Sprachwissenschaften stellen hier ein weit differenzierteres Vokabular bereit. Ziel dieses Aufsatzes ist der Frage nachzugehen, inwiefern das sprachwissenschaftliche Verständnis von Ambiguität im bildwissenschaftlichen Diskurs nutzbar gemacht werden kann. Was hat es also mit der Ambiguität in Bildern auf sich?

1 Zum Bildbegriff

Da die Bildwissenschaft sich nur allmählich von ihrem historischen Vorläufer, der Kunstgeschichte, löst, könnte man in der ambiguitätsbezogenen Fachliteratur bisweilen den Eindruck bekommen, dass es sich bei der Ambiguität im Bild in erster Linie um ein kunsttheoretisches Problem handelt. Gombrich hat aber bereits in Kunst und Illusion darauf hingewiesen, dass die Frage nach der Kunst von allgemeinen, bildbezogenen Fragestellungen unterschieden werden kann:

So wie das Studium der Poesie ohne eine Kenntnis der Prosasprache unvollkommen sein muß, so wird auch das Studium der Kunst immer wieder ergänzt werden müssen durch Untersuchungen der >Linguistik< bildlicher Darstellungen (Gombrich 1978, 24).

Das heißt also, dass nicht alle semantischen Phänomene, die wir in Bildern beobachten können, nach einer kunsttheoretischen Perspektive verlangen; stattdessen ist die Semiotik gefragt.

Aufgrund eben dieser Wurzeln in der Kunstgeschichte wird in der Bildwissenschaft zudem immer noch häufig mit einem äußerst weit gesteckten Bildbegriff gearbeitet, der ein ganzes Spektrum von Artfakten visueller Kommunikation umfasst. Bredekamp liefert ein besonders markantes Beispiel hierfür: „Eine visuelle Konstitution, die sich mit einem Sinn verbindet, und sei dieser sinnlos, ist für mich ein Bild“.208 Zumindest aus semiotischer Perspektive werfen solche Definitionen aber zahlreiche Probleme auf. Je differenter die Phänomene, die unter dem Begriff Bild subsumiert werden, desto schwieriger wird es sein, eine konsistente Bildtheorie aufzustellen. In diesem Aufsatz wird deswegen unter den Prämissen eines engen Bildbegriffs gearbeitet, der sich allein auf den Bereich der gemeinhin als ‚gegenständlichen Bilder’ bezeichneten Bilder bezieht (Knape 2007, Stöckl 2004). Bilder werden hier als zweidimensionale Texturen verstanden.209 Die zu einem Bildtext verwobenen Zeichen werden dabei Bildzeichen genannt (vgl. Knape 2007, Stöckl 2004). Vereinfacht kann man sagen, dass der Begriff des Bildzeichens eine semantische Entität im Bild umfasst (z.B. Stuhl, Tisch, Tasse).

2 Ambiguität in der Bildwissenschaft

Eine systematische Untersuchung der Ambiguität im Bild hat erst in den letzten Jahren eingesetzt und darf nach wie vor als Forschungsdesiderat bezeichnet werden. Krieger und Mader haben hier mit der Herausgabe des Aufsatzbands Ambiguität in der Kunst einen wichtigen Beitrag zur weiteren Erschließung dieses Forschungsfelds geleistet (Krieger & Mader 2010, Romanacci 2009). Dem Titel gemäß spricht Krieger in ihren einleitenden Aufsatz von Bildern und Gemälden im kunstgeschichtlichen Kontext. Dabei stellt sie fest, dass „Ambiguität in der Kunst […] ubiquitär“ (Krieger 2010, 14) ist. Ambiguität dient ihr dabei als Oberbegriff „für das weite Feld verwandter Phänomene in der Kunst – Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Unbestimmtheit“ (Krieger 2010, 15). Dabei stellt sie einerseits fest, dass sich dieses Phänomen der Analyse strukturell entziehen würde (Krieger 2010, 14), andererseits dass hier erheblicher Forschungsbedarf besteht: „Der Begriff der Ambiguität ist selbst so vage wie das Phänomen, das er bezeichnet“ (Krieger 2010, 15). Eine systematische Differenzierung sei also verlangt, „die Vielschichtigkeit des Phänomens“ verdeutliche die „Notwendigkeit einer systematischen Scheidung der divergierenden Ebenen“ (Krieger 2010, 24).

Obwohl Krieger sich ausschließlich auf die Rolle der Ambiguität in der Kunst bezieht, sind ihre Beobachtungen ebenso auf die übergeordnete Frage nach der Ambiguität in Bildern im Allgemeinen erhellend. Bei Kriegers Beispielen handelt es sich zudem weitestgehend um Bilder im obigen engen Sinn.

Zu bemängeln ist an Kriegers Ausführungen letztlich dann nur die Wahl ihres Oberbegriffs, denn, wie sie selbst ausführt, sind die Phänomene, die gemeinhin unter dem Begriff der Ambiguität aufgeführt werden, nur eingeschränkt miteinander verwandt: Sie ähneln sich allein darin, dass sie in irgendeiner Form einen Spielraum für Interpretationen eröffnen. Tatsächlich haben viele dieser Phänomene aber nichts mit Ambiguität in einem engen Begriffsverständnis zu tun, so wie es sich in den Sprachwissenschaften seit geraumer Zeit etabliert hat. So betont auch Scheffler für die Ambiguität im Bild, dass „ordinary attributions of ambiguity to pictures are too elastic to be of theoretical interest“ (Scheffler 1989, 109). So müssten z.B. linguistische Kategorien wie Vagheit oder Allgemeinheit von der Ambiguität unterschieden werden (Scheffler 1989, 109). Die bloße Tatsache, dass eine Textur unterschiedliche Interpretationen ermöglicht, hängt von vielen Faktoren ab und Ambiguität ist nur einer neben anderen. Der Umstand etwa, dass Bilder aufgrund von veränderten Kontexten unterschiedliche Interpretationen zulassen, ist zwar eine richtige Beobachtung, die für Bilder wie für lautsprachliche Äußerungen gilt, mit Ambiguität hat das aber nichts zu tun. Es handelt sich hier vielmehr um einen gewöhnlichen Kontexteffekt. Krieger muss dann etwas widersprüchlich erscheinen, wenn sie auf der einen Seite behauptet, dass eine systematische Analyse durch die oft umgangssprachliche Begriffsverwendung von Ambiguität nicht möglich sei und auf der anderen Seite zu begrifflicher Differenzierung mahnt, die aber durch die Wahl des Überbegriffs unmöglich wird. Die Analyse des von ihr beobachteten Phänomens kann eben nur auf der Basis genauer begrifflicher Differenzierung erfolgen. Kriegers Umschau auf den Ambiguitätsdiskurs in der kunst- bzw. bildbezogenen Forschung offenbart indes einen tiefen Einblick, wie lose der Begriff gemeinhin verwendet wird: Ambiguität heißt hier eben nicht viel mehr als dass es unter der Manipulation einer Vielzahl von Parametern möglich ist, zahllose unterschiedliche Interpretationen an Bilder heranzutragen. Wenn diese Parameter aber nicht genauer bestimmt werden, verbleibt diese Feststellung als eine semiotische Pauschalbeobachtung, die wohl für jedes sprachverwandte Zeichensystem zutrifft.

2.1 Für einen enges Verständnis der Ambiguität in der Bildwissenschaft

Die Phänomene, die hier unter Ambiguität subsumiert werden, werden in den Sprachwissenschaften schon seit langer Zeit als different beschrieben. Kann das differenziertere Vokabular der Sprachwissenschaft auch für die Bildproblematik fruchtbar gemacht werden? Nicht ohne Zufall sprich Gombrich metaphorisch von einer „>Linguistik< bildlicher Darstellung“ (Gombrich 1978, 24). Wenn wir davon ausgehen, dass es eine prinzipielle Verwandtschaft semiotischer Systeme gibt, dann muss auch eine analoge Betrachtung semiotischer Phänomene möglich sein. Mit Morris können wir davon ausgehen, dass alle semiotischen Systeme, die eine semantische, syntaktisch und pragmatische Dimension aufweisen, als sprachverwandte Zeichensysteme bezeichnet werden können (Morris 1971). Damit wäre auch die prinzipielle Übertragbarkeit von Kategorien und Terminologie gewährleistet. Ein sprachanaloges Verfahren ist dann potentiell produktiv und erkenntnisreich, auch wenn davon auszugehen ist, dass semiotische Systeme eben nur verwandt und nicht identisch funktionieren (Knape 2007, Muckenhaupt 1986).210

In dem einleitenden Essay dieses Bandes skizziert Wasow den status quo der sprachwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich der Ambiguitätsproblematik (Wasow, in diesem Band). Ambiguität beschreibt hier den Umstand, dass einem sprachlichen Ausdruck eine oder mehrere distinkte Bedeutungen zugeschrieben werden können. Wasow weist hier auch auf die gängige Abgrenzung zur Vagheit hin und hebt die ebenso gängige Unterscheidung zwischen lexikalischer und struktureller Ambiguität sowie der Skopusambiguität hervor (Wasow, in diesem Band). Letztere basiert auf der für die Lautsprache spezifischen Zeichenklasse der Operatoren, weswegen sie für die gegenwärtige Fragestellung zurückgestellt werden können. Lexikalische und strukturelle Ambiguität sind Kategorien, die schon in der antiken Sprachtheorie bekannt waren211 und nicht auf lautsprachlichen Spezifika basieren, so dass sie auf ihre Anwendbarkeit in anderen Zeichensystemen untersucht werden können. In diesem Sinne können wir im Hinblick auf die Ambiguität in Bildern zwei Fragen stellen: Gibt es ambige Einzelzeichen im Bild und gibt es ambige Zeichenkombinationen im Bild?

3 Ambiguität im Bild

3.1 Ambige Zeichen vs. ambige Performanz von Zeichen

In den Sprachwissenschaften wird bei den ambigen Einzelzeichen zwischen den Homonymen und Polysemen unterschieden, wobei diese Differenzierung nicht als unproblematisch gilt. Für die Frage dieses Aufsatzes, ob es überhaupt so etwas wie Ambiguität von Bildzeichen gibt, tritt sie fürs erste in den Hintergrund. Vielmehr geht es um die grundlegende Frage, ob es überhaupt so etwas wie Ambiguität bei einzelnen Bildzeichen gibt. Weitere Differenzierungen können erst im Anschluss daran erfolgen.

Ein beliebtes Beispiel für ambige Bildzeichen ist das berühmte Hase/Ente-Bild, 212 das Wittgenstein in seiner Philosophie der Psychologie bemüht und das Gombrich in Kunst und Illusion dann zum Schlüsselproblem für die Bildwissenschaft erhebt:

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Abbildung 1: nach Gombrich (1978).

Es handelt sich hierbei um ein typisches Kippbild. Die Ambiguität scheint hier auf den ersten Blick außer Frage zu stehen: dem Betrachter ist es möglich, sowohl einen Hasen- also auch einen Entenkopf zu sehen. Das bedeutet also, dass die möglichen Bedeutungen disjunkt und diskret benennbar sind. Es liegt also eine gewisse Verwandtschaft zu lexikalischen Ambiguitätsphänomenen vor, etwa zu dem deutschen Wort ‚Bank’, das sowohl ein Unternehmen, das Finanzgeschäfte betreibt, als auch eine Sitzgelegenheit für mehrere Personen bezeichnet. Auch hier sind unterschiedliche Bedeutungen für das Zeichen disjunkt und diskret benennbar. Sowohl bei dem Wort Bank als auch bei dem Hase/Ente-Bild ist ferner davon auszugehen, dass durch Ko- und Kontext eine Disambiguierung erzielt werden kann.213

Ein weiteres Kriterium für lexikalische Ambiguität, das aber in der Forschung gemeinhin nicht aufgeführt wird, ist der Umstand, dass die Ambiguität in Abstraktion von der Performanz des Zeichens besteht: Bei der Untersuchung von Ambiguität auf Einzelzeichenebene geht es schließlich um die Frage, ob die Ambiguitäten durch das jeweilige Sprachsystem bedingt sind. Bei ambigen Wörtern wie ‚Bank’ ist dies der Fall. Losgelöst von disambiguierenden Ko- und Kontexten bleibt die Ambiguität in der jeweiligen Performanz stabil. Die spezifische Performanz des Wortes hat keinerlei Einfluss auf den Ambiguitätseffekt, es bleiben stets sämtliche im System vorgesehenen Bedeutungen des Wortes vorhanden. Einfach gesagt: Ich kann 20 Mal hintereinander das Wort ‚Bank‘ sagen und so lange ich nichts Weiteres sage, wird niemandem klar sein, was ich damit meine – es bleibt mehrdeutig.

Beim Hase/Ente-Bild scheint aber genau dies nicht der Fall zu sein: Die Performanz des Zeichens kann sogar einen signifikanten Unterschied hinsichtlich seiner Bedeutung machen, denn schlussendlich gibt es zahllose Beispiele von Bildern von Hasen und Enten, die vollkommen eindeutig sind. Der Ambiguitätseffekt tritt beim Hase/Ente-Bild eben nicht losgelöst von der jeweiligen Performanz ein – vielmehr scheint er sogar das direkte Resultat einer bestimmten Performanz zu sein.

Ein ähnliches Phänomen kann bei einem berühmten Experiment von Labov beobachtet werden (Labov 2005). Labov legte seinen Versuchspersonen eine Reihe von Abbildungen von Gefäßen vor und ließ sie anschließend eine begriffliche Einordnung vornehmen. Während bei einigen Gefäßen die Einordnung statistisch messbar eindeutig war, sind bei anderen Mehrdeutigkeitseffekte aufgetreten.

So ist beispielsweise Nummer acht sowohl als Tasse als auch als Schüssel klassifizierbar. Die Abbildungen sieben und zehn verdeutlichen aber, dass die jeweiligen Bildzeichen für Tasse oder Schüssel auch ohne diese Ambiguität realisiert werden können. Die jeweilige Performanz des Zeichens bestimmt auch hier den Grad ihrer Eindeutigkeit.

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Abbildung 2: nach Schwarz-Friesel (2008, 111).

Es liegt auf der Hand, dass ein gewisser Unterschied bei den beiden Beispielen vorliegt, denn das Hase/Ente-Bild ist natürlich deswegen so spektakulär, weil eben jener Kippeffekt in der Gestaltwahrnehmung eintritt. Was aber bei beiden Beispielen vorliegt, ist das Phänomen, dass aufgrund einer spezifischen Performanz eines Bildzeichen ein Ambiguitätseffekt eintritt, der aber in beiden Beispielen durch eine graduelle Variation in der jeweiligen Realisierung aufgelöst werden kann. Legen wir einen engen, linguistisch geprägten Ambiguitätsbegriff an, dann haben wir es bei beiden Beispielen also nicht mit regulären ambigen Zeichen zu tun, vielmehr müssten wir hier von ambiger Performanz eindeutiger Zeichen sprechen.

Ist das Phänomen ambiger Performanz bildspezifisch, wird es also durch die Funktionsweise des zugrunde liegenden semiotischen Systems begünstigt? Es ließe sich mutmaßen, dass das Phänomen ambiger Performanz in Bildern zu beobachten ist, weil wir es hier mit einem analogen Kode zu tun haben und nicht mit einem digitalen, wie in der Lautsprache (Eco 2002).214 Aber das Phänomen ambiger Performanz ist bei weitem nicht auf den Bereich der Bildkommunikation beschränkt und wir finden es ebenso in der Lautsprache: Mondegreens sind vielleicht das bekannteste Beispiel, wenn sie auch aufgrund ihrer zahlreichen Parameter (vor allem des Einflusses der Musik) nicht das ideale Vergleichsobjekt darstellen. Ambige Performanz lautsprachlicher Zeichen lässt sich aber auch in ganz alltäglichen Kommunikationssituationen beobachten, etwa bei undeutlicher schriftlicher Notation. Hierbei handelt es sich um einen performanzbedingten Ambiguitätseffekt, wie z.B. in folgendem Beispiel:

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Abbildung 3

Während (1) eindeutig als ‚Haus‘ und (3) eindeutig als ‚Hans‘ zu identifizieren ist, sind bei (2) beide Lesarten möglich. Auch in der mündlichen Kommunikation sind solche Effekte alltäglich, wenn nämlich performanzbedingte Homophonie eintritt.

Ist dieses Phänomen der ambigen Performanz nun aber wenigstens ein grundsätzliches Problem in der Kommunikation mit Bildern, wie es die viel beschworene Ambiguität der Bilder vielleicht vermuten ließe? Studien zur Objekterkennung deuten an, dass dies nicht der Fall ist. Grill-Spector und Kahnwisher etwa legten Versuchpersonen Fotografien vor und ließen sie eine kategoriale Einordung des gezeigten Gegenstands vornehmen. Selbst bei extrem kurzen Expositionszeiten war kein Mehrdeutigkeitseffekt zu beobachten: „By the time subjects knew an image contained an object at all, they already knew its category“ (Grill-Spector & Kanwisher 2005, 152). Das bestätigt, was sich letztlich auch alltäglich in der reibungslosen Kommunikation mit Bildern beobachten lässt: In den meisten Fällen geraten wir schlichtweg nicht in Diskussionen darüber, was denn nun genau auf einem Bild zu sehen sei.

Wenn man also davon ausgeht, dass Ambiguität von Zeichen in Abstraktion von Ko- und Kontext aber gerade auch von der jeweiligen Performanz beschrieben werden muss, dann muss für das Bild die Ambiguität auf Einzelzeichen-Ebene zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Die performanzbedingte Ambiguität von Einzelzeichen scheint in Bildern sicherlich eine Rolle spielen und hier besteht noch Forschungsbedarf. Für die Existenz einer regulären Ambiguität der Bildzeichen muss indes erst noch der Beweis angetreten werden.

3.2 Strukturelle Ambiguität im Bild

Strukturelle Ambiguitäten resultieren aus der jeweiligen Funktionsweise des zugrunde liegenden syntaktischen Systems. Eine strukturelle Ambiguität liegt vor, wenn eine Zeichenkette hinsichtlich ihrer syntaktischen Verknüpfung mehrere diskret benennbare Interpretationen zulässt. Wasow beschreibt das so: „Structural ambiguities arise when a given string of words can be parsed in two different ways, with different meanings“ (Wasow, in diesem Band). Er nennt folgendes Beispiel:

(1) The guards let small men and women exit first (Wasow, in diesem Band).

 

 

Das syntaktische System der Lautsprache ist aufgrund vieler Faktoren hochkomplex. Viele dieser Faktoren sind spezifisch für die Lautsprache (Linearität, Kasussystem, verschiedene Wortklassen, etc.) und es liegt auf der Hand, dass wir im Bild ein völlig anders geartetes System vermuten müssen. Stöckl macht besonders die fehlende Linearität als wichtigen Grund dafür aus:

I believe pictorial grammar to be far removed from verbal grammar. […] Talking about spatial grammar in contrast to a linear grammar may hint at a crucial difference in the functioning of visual and verbal syntax […] (Stöckl 2001, 85).

In der Tat scheint es überdies angebracht zu sein, nicht von einer einzigen ‚Bildgrammatik’ zu sprechen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass nicht alle Bilder nach denselben syntaktischen Regeln konstruiert werden. Wie auch bei den Lautsprachen, ist auch von unterschiedlichen Bildsprachen auszugehen (Knape 2007, 13). So folgt etwa das mittelalterliche System der Bedeutungsperspektive grundlegend anderen Prinzipien wie die Zentralperspektive. Während die Bedeutungsperspektive ein syntaktisches System ist, das die Bedeutsamkeit z.B. von Personen angibt, zielt die Zentralperspektive auf die Enkodierung eines dreidimensionalen Raumes auf einer zweidimensionalen Fläche. Als syntaktisches System gibt die Bedeutungsperspektive also die relative Bedeutsamkeit von Bildzeichen an, während die Zentralperspektive ihre relative räumliche Lage bestimmt. Die Zentralperspektive ist, nicht zuletzt weil sie auch in der Fotografie Anwendung findet, wohl das am weitesten verbreitete bildliche syntaktische System, weswegen sie Gegenstand der weiteren Untersuchung sein soll.

Gerade bei der Zentralperspektive aber muss die Frage nach möglicher syntaktischer Ambiguität fasst schon paradox anmuten. Denn das System der Zentralperspektive ist (nicht zuletzt wegen seiner physikalischen Grundlage in der Optik) ja gerade darauf hin ausgelegt, jedem Bildzeichen eine eindeutige relative räumliche Position zuzuschreiben. Und da es ebenso eine physikalische Gesetzmäßigkeit ist, dass niemals zwei Objekte in einem Raum den gleichen Ort einnehmen können und dass ein Objekt niemals an zwei Orten gleichzeitig sein kann erübrigt sich die Frage nach der strukturellen Ambiguität in der Zentralperspektive. 215

Über die relative räumliche Lage hinaus, weist Stöckl ferner darauf hin, dass die Proximität von Bildzeichen einen semantischen Bezug indizieren kann:

Objects represented in the pictorial frame which are close to one another usually stand in some semantic relation; distance, on the other hand, signals disconnectedness (Stöckl 2001, 89).

Ebenso kommt der Deixis im Bild eine gewisse Rolle zu. Im Bühlerschen Sinn können wir bei einem Bild auch von einem Zeigfeld sprechen, in dem die einzelnen Bildzeichen aufeinander verweisen können (Bühler 1982, 80). Doch wie Stöckl sagt, ist hiermit nur ein unbestimmter semantischer Bezug angedeutet, denn im syntaktischen System der Zentralperspektive ist die Indizierung komplexerer semantischer Relationen (z.B. vergleichbar mit den Fällen in der Lautsprache) abseits der relativen räumlichen Lage nicht vorgesehen. Aus diesem Grund scheint es auch nicht angebracht zu sein, hier von möglicher Ambiguität sprechen. Proximität und Deixis mögen semantische Bezüge andeuten (was aber auch nicht zwingend der Fall sein muss), die Tatsache, dass diese aber nicht weiter bestimmt sind, eröffnet zwar einen Interpretationsspielraum, mit Ambiguität hat das jedoch nichts zu tun. In Kriegers Beispiel von Vermeers Musikstunde können wir also z.B. die Frage stellen, in welcher Beziehung stehen Mann und Frau in dem Bild zueinander stehen, eine Ambiguität ist das aber nicht (so Krieger 2010, 32).

Wie schon bei den Einzelzeichen kann die Frage nach der strukturellen Ambiguität im Bild auch mit einem Verweis auf die alltägliche Kommunikation mit (zentralperspektivischen) Bildern beantwortet werden. Bei der Betrachtung z.B. einer Fotografie geraten wir genauso wenig darüber ins Grübeln, was alles auf einer Fotografie zu sehen ist, noch darüber, wie der abgebildete Raum beschaffen ist. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht andere Fragen an das Bild richten und uns über seine Bedeutung unklar sein können. Somit muss die Frage nach der strukturellen Ambiguität ebenso mit einem Fragezeichen versehen werden und bis auf den Beweis des Gegenteils suspendiert werden. Auf jeden Fall gilt, dass die Möglichkeit struktureller Ambiguität nicht für das Übermaß Rechnung tragen kann, mit dem der Begriff der Ambiguität in der Forschung bedient wird.

4 Die Schuhe von van Gogh: Unspezifität vs. Ambiguität

Was ist nun der Grund dafür, dass für Bilder eine notorische Interpretationsoffenheit konstatiert wird, die dann immer wieder auch als Ambiguität bezeichnet wird? Krieger nennt zahlreiche Beispiele für derartig ‚ambige‘ Bilder,216 so u.a. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer oder die bereits angesprochene Musikstunde von Vermeer. Im Folgenden soll aber auf ein Bild eingegangen werden, das trotz des faszinierenden Gelehrtenstreits, der sich um seine Interpretation spinnt, bei Krieger nicht erwähnt wird: Vincent van Goghs Les Souliers. In seinem umfangreichen Essay „What of Shoes“ zeichnet Batchen diesen Interpretationsstreit nach, bei dem sich so illustre Persönlichkeiten aus Philosophie und Kunstgeschichte wie Martin Heidegger, Meyer Schapiro und Jacques Derrida beteiligt haben (Batchen 2009). Im Folgenden soll nicht auf sämtliche Aspekte dieses Disputs eingegangen werden; für die gegenwärtigen Zwecke reicht ein Blick auf einige der zentrale Positionen. Dabei geht es um die Frage, was die im Bild auffindbaren Gründe sind, die dazu führen konnten, dass ein Bild von zwei Schuhen Gegenstand eines derartigen Interpretationsstreits werden kann.

In seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“ schlägt Heidegger eine Interpretation des Bildes vor, die den unbeschwerten Betrachter überraschen mag: Für Heidegger steht außer Frage, dass das Bild ein Paar Schuhe einer Bäuerin zeigt, obwohl er selbst bemerkt, dass „[n]icht einmal Erdklumpen von der Ackerscholle oder vom Feldweg [daran] kleben […], was doch wenigstens auf ihre Verwendung hinweisen könnte“ (Heidegger zitiert nach Batchen 2009, 16). Diese Annahme über die Schuhbesitzerin dient ihm als Ausgangspunkt für seine folgende, weitläufige Interpretation:

Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst in seinem Insichruhen (Heidegger zitiert nach Batchen 2009, 16).

Heidegger begibt sich hier regelrecht auf eine Reise in seine Vorstellungskraft. Die Ackerfurchen, der raue Wind, der Feldweg, das winterliche Feld, Geburt und Tod, für all dies finden wir in dem Bild keine Hinweise. Nur gelegentlich nimmt er direkten Bezug auf van Goghs Darstellung der Schuhe, etwa wenn er von der „derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs“ spricht, oder von dem Leder auf dem „das Feuchte und Satte des Bodens“ liegt. Das Bild von den beiden Schuhen dient hier primär als Ausgangspunkt einer Interpretation, bei der Heidegger bald den eigentlichen Gegenstand des Bildes verlässt: „Für Heidegger stellt dieses Zeug, hier in Form von Schuhen, praktisch die dingliche Verkörperung des Daseins der Bäuerin dar“ (Batchen 2009, 17).

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Abbildung 4: Vincent van Gogh: Schuhe, 1886.

Es überrascht dann nicht, dass Heideggers Interpretation des Bildes auf Widerstand stieß. Der Kunsthistoriker Schapiro verfasste in seinem Essay „The Still Life as a Personal Object: A Note on Heidegger and van Gogh“ eine direkte Replik, in der er in nahezu jeder Hinsicht einen konträren Standpunkt gegenüber Heidegger einnimmt (Schapiro 1968). Vor allem widerspricht er dabei der Annahme, die gleichermaßen die Basis für Heideggers Interpretation darstellt, nämlich dass es sich bei den Schuhen um die Schuhe einer Bäuerin handeln würde. Heideggers Ausführungen werden „von dem Bild selbst nicht gestützt“ (Schapiro nach Batchen 2009, 17), Schapiro hingegen ist davon überzeugt, dass es sich bei den Schuhen vielmehr um die Schuhe eines Städters, genauer von van Gogh selbst, handele. In diesem Sinn argumentiert er, dass Heidegger „die Präsenz des Künstlers in seinem Werk übersehen“ (Schapiro nach Batchen 2009, 24) habe und demgemäß sei das Bild über nichts anderes als den Maler selbst. Die Schuhe stünden stellvertretend für den Maler und damit sei das Bild auch vielmehr als eine Art Selbstportrait zu verstehen.

Auch diese Interpretation muss, wenn man sich das Bild noch einmal vor Augen führt, aufs Neue überraschen, denn auch für den neuen Besitzer der Schuhe finden wir in dem Bild keinen Hinweis. Obwohl Schapiro sich gegen Heidegger zu positionieren versucht, basiert auch seine Interpretation darauf, dass er dem Bild etwas hinzufügt, das nicht darin zu finden ist: Den Besitzer der Schuhe. Sowohl Heidegger als auch Schapiro sehen:

ein Paar Schuhe, die sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wollen, einer Bäuerin hier, einem Maler da. Beide verstehen die Schuhe als Stellvertreter einer fehlenden Person, die sie in Gestalt eines Eigennamens zum Schauplatz des Gemäldes zurückbringen versuchen (Batchen 2009, 33–35).

Beide Interpretationen des Bildes sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie den semantischen Horizont, den das Bild vorgibt, recht schnell hinter sich lassen und die Autoren beziehen die maßgeblichen Prämissen für ihre Interpretation somit nicht aus dem Bild selbst. In seinem Beitrag zu der Debatte geht Derrida gemäß seiner Methode der Dekonstruktion dann auch weniger auf das Bild selbst ein, sondern konzentriert sich darauf, die Interpretationen seiner Vorredner auf derartige stillschweigende Annahmen und verdeckte Deutungsmechanismen hin zu untersuchen. Batchen fasst Derridas Vorgehen sehr pointiert zusammen:

Im Kern deckt Derrida damit auf, inwieweit jede dieser Deutungen eigentlich autobiographisch und eigennützig ist. Sowohl Heidegger als auch Schapiro münzen das Schuhgemälde in ein Selbstportrait um, das nicht van Gogh zeigt, sondern sie selbst! (Batchen 2009, 39).

Eine dieser stillschweigenden Annahmen, die Derrida hinterfragt, bezieht sich aber auch auf eine direkte Bildbeobachtung: Ist es überhaupt ein Paar Schuhe, dass wir sehen, oder sind es vielleicht zwei unterschiedliche Schuhe? Oder ist es vielleicht sogar zweimal derselbe Schuh zu einem anderen Zeitpunkt gemalt? (Batchen 2009, 38). In der Tat lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten: Das Bild schweigt und lässt hier alle Deutungen zu.

In Summe haben wir es also mit mehreren Problemen zu tun, die die Interpretation des Bildes zu erschweren scheinen: Zum einen steht die Frage im Raum, ob es sich überhaupt um ein Paar Schuhe handelt, das auf dem Bild zu sehen ist, zum anderen wird die Frage nach ihrem Besitzer aufgeworfen, die wiederum in den Beispielen von Heidegger und Schapiro als Schlüssel für die weitere Interpretation des Bildes fungiert.

Bei der Frage, ob es sich hier tatsächlich um das Bild von einem Paar Schuhe handelt oder nicht, haben wir es dann im Sinne der obigen Diskussion mit einer performanzbedingten Ambiguität zu tun – Tasse oder Schüssel, linker oder rechter Schuh, die Performanz der Zeichen eröffnet einen diskreten Interpretationsspielraum. Batchen spielt mit dem Gedanken, dass „diese Mehrdeutigkeiten allesamt Zufall und dem ungelenken Malstil eines jungen van Gogh geschuldet sein, der sein Handwerk gerade erst lernt“ (Batchen 2009, 41). Ebenso weist er aber darauf hin, dass sich diese Mehrdeutigkeit auch an Faktoren festmacht, die sich nicht der Kontrolle des Malers potentiell entzogen haben, wie etwa der unterschiedlichen Schnürung der Schuhe (Batchen 2009, 41). Gerade diese Beobachtung kann als Indiz dafür fungieren, dass diese Ambiguität vielleicht sogar beabsichtigt ist. Beantworten lässt sich dies natürlich nicht allein durch Betrachtung des Bildes.

Die Frage aber, wem diese Schuhe nun gehören, übersteigt offenkundig die Semantik des Bildes und verlässt damit auch den Bereich der Ambiguität. Ebenso ist die Spekulation, ob es sich vielleicht um ein und denselben Schuh handelt, der zu verschiedenen Zeitpunkten gemalt wurde, kein Hinweis auf eine Ambiguität, denn hier werden Fragen an das Bild gerichtet, die im Bild selbst nicht spezifiziert werden: Der Bildkode erlaubt es schlichtweg nicht, eine definitive Aussage hierüber zu treffen. Gerade in dieser Unspezifität des Bildes liegt dann auch ein Hinweis auf den Ursprung der Interpretationsoffenheit von Bildern. Denn der Umstand, dass etwa kein Besitzer der Schuhe in dem Bild auszumachen ist, liegt nicht allein an van Goghs Entscheidung über die Bedeutung des Bildes, es ist vielmehr gar nicht möglich, im Bild eine derartige Spezifikation vorzunehmen. Ebenso ist es auch nicht möglich, in einem Bild zu spezifizieren, dass es sich bei der Darstellung von zwei Schuhen zweimal um denselben Schuh handelt, der ihn zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten zeigt. Das semiotische System des Bildes sieht keine Zeichenzusammenhänge vor, die den Besitz von etwas anzeigen, wie es etwa der Genitiv in der deutschen Sprache erlaubt. Ebenso ist es nicht möglich, eine temporale Beziehung zwischen zwei Bildzeichen anzugeben (etwa vorher/ nachher) oder ein abstraktes Konzept wie ‚Identität’ aufzurufen (‚der identische Schuh’).

Unspezifität ist ein Phänomen, dass auch aus der Lautsprache bekannt ist. Gullvåg und Næss (1996) nennen hierfür das Beispiel „There is a man at the door.“ Der Satz spezifiziert nicht, wer der Mann ist, ob er groß oder klein ist, wo er herkommt, welche Nationalität er hat oder welche Schuhe er trägt.

But this is not to say that it is ambiguous. Nor is its lack of specificity the same as vagueness. […] – Discourse is sometimes described as ‚unclear’, ‚indefinite’ ‚vague’ etc., where these expressions do not refer to diffuseness of limitations of extensions of expressions, but rather to the lack of intelligibility of discourse, or the superficiality or wanting perspicuity of thoughts exressed in it (Gullvåg & Næss 1996, 1408).

Der Unterschied zu dem Beispiel von van Goghs Schuhen liegt natürlich darin, dass die Lautsprache prinzipiell die Spezifikation der aufgezeigten Unspezifität zulässt. Gleichzeitig können mit dem Bildkode aber hinsichtlich bestimmter Aspekte weit aus präzisiere Spezifikationen vorgenommen werden als es mit der die Lautsprache möglich wäre, etwa wenn es um das konkrete Aussehen von Dingen geht.

Die Spezifität einer Aussage ist nicht als absolute Größe zu verstehen, sie steht vielmehr in Abhängigkeit zu den konkreten Erfordernissen der kommunikativen Situation und nicht immer ist eine möglichst hohe Spezifikation angemessen. Der Satz „There is a man at the door.“ lässt sich hinsichtlich vieler Aspekte genauer spezifizieren, doch nicht alle dieser Aspekte sind stets in allen kommunikativen Kontexten relevant. So ist es vielleicht eine relevante Information, aus welchem Grund der Mann an der Tür steht, jedoch nicht, welche Haarfarbe er hat oder was er gefrühstückt hat. Die erforderte Spezifität einer Aussage ist also von rein pragmatischen Faktoren abhängig. Während Ambiguität ein Phänomen ist, dass bei einem Text in Abstraktion des Kontexts zu beobachten ist, kann Unspezifität überhaupt nur aufgrund bestimmter kontextueller Faktoren in Erscheinung treten und zwar genau dann, wenn ein Kommunikator gegenüber einem Adressaten angesichts der konkreten kommunikativen Situation den erforderlichen Grad an Spezifikation verfehlt. Wir befinden uns also damit nicht länger Gebiet der Semantik, sondern der Pragmatik. Grice beschreibt diesen Sachverhalt in seinen Überlegungen zum Cooperative Principle (CP) über die Maxime der Quantität, die besagt:

  1. Make your contribution as informative as is required (for the current purpose of exchange)
  2. Do not make your contribution more informative than is required (Grice 1970, 26).

Das spezifische semantische Leistungsprofil des Bildkodes scheint nun gerade die Berücksichtigung dieser Maxime potentiell zu erschweren. Es ist nicht immer möglich, allein durch ein Bild alle möglichen Bedürfnisse der Kommunikationsteilnehmer zu erfüllen. Nur ist es eben keine Ambiguität, die daraus resultiert. Es handelt sich dann nicht um distinkte mögliche Bedeutungen, eines Bildes sondern um einen Mangel an Spezifität und Grice würde sagen, dass sie der Anlass für Inferenzen von Kommunikationsteilnehmern ist. Wenn Heidegger oder Schapiro anfangen, über den Besitzer der Schuhe auf van Goghs Bild zu spekulieren, dann nehmen sie in ihrer Interpretation eine Spezifikation vor, die nicht durch das Bild gestützt ist und es liegt in der Natur der Sache, dass auch zahlreiche andersartige Spezifikationen vorgenommen werden könnten, die mehr oder minder plausibel sind. Das Einzige, was wir also mit Sicherheit über van Goghs Bild sagen können, ist, dass er sich offenbar bewusst dagegen entschieden hat, dem Betrachter konkrete Hinweise über den Besitzer der Schuhe zu geben: Sei es, weil er ihn bewusst zum Spekulieren anregen wollte, sei es weil ihm schlicht um etwas anderes ging.

5 Zusammenfassung

Am Anfang dieses Aufsatzes stand die Feststellung, dass Bildern bisweilen ein inhärenter Hang zur Ambiguität zugesprochen wird. Über ein sprachanaloges Verfahren wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die linguistischen Ambiguitätskategorien auch für das Bild fruchtbar gemacht werden können. Dabei wurde für die Ambiguität einzelner Bildzeichen gezeigt, dass Ambiguität hier auf entscheidende Weise ein performanzsbedingtes Phänomen ist, weswegen es nicht angemessen scheint, von einer regulären Ambiguität der Bildzeichen in Analogie zur lexikalischen Ambiguität zu sprechen. Ebenso musste die Frage nach der strukturellen Ambiguität im speziellen Fall der Zentralperspektive mit einem Fragezeichen versehen werden. Van Goghs Bild der Schuhe hat einen konkreten Fall gezeigt, in dem eine performanzbedingte Ambiguität am Werk ist, hat aber auch dazu gedient, den Fokus auf ein grundsätzliches Problem der Kommunikation mit Bildern zu legen: ihrer potentielle Unspezifität. Es ist nicht die Ambiguität, die den Horizont für mögliche Interpretationen bei Bildern so radikal öffnet, sondern vielmehr der Umstand, dass der Bildkode ein sehr spezifisches semantisches Leistungsprofil aufweist, dass aufgrund seiner Limitierungen in der konkreten Kommunikation dazu führen kann, dass die Grice’sche Maxime der Quantität nicht eingehalten werden kann. Ambiguität ist also kein Fundamentalproblem in der Kommunikation mit Bildern. Vielmehr ist der Umstand problematisch, dass Bilder uns nicht immer all die erforderlichen Informationen bereitstellen, die wir in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen benötigen, um eindeutige Interpretationen zu generieren. Bilder sind offen für unterschiedliche Interpretationen aber nur selten ist dabei eine echte Ambiguität am Werk.

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