Joachim Knape

Von der intendierten Ambiguität in die Aporie. Monologische und dialogische Erkenntniswege am Beispiel von PlatonsHippias Minor

„Allgemeine Rathlosigkeit.“ Mit diesen zwei resümierenden Wörtern schließt der Philosoph Friedrich Nietzsche in der Platon-Vorlesung des Wintersemesters 1871/72 seine kurze Zusammenfassung zum Kleineren Hippias (Nietzsche 1871–75, 142). Wie kann es dazu kommen, dass für einen der berühmten Dialoge Platons am Ende nur Ratlosigkeit diagnostiziert wird? Der vorliegende Beitrag geht dieser Frage nach und beantwortet sie mit der These, dass das genannte Ergebnis auf einem gekonnten Spiel mit intendierter Ambiguität im Gespräch beruht. Damit ist zum einen ein ganz bestimmter Aspekt des Ambiguitätsphänomens angesprochen, nämlich die bewusst eingesetzte oder doch wenigstens in Kauf genommene Ambiguierung als Bestandteil einer rhetorischen Strategie. Zum anderen wird das Augenmerk auf die Besonderheiten dialogischer Kommunikation gelenkt, die für intendierte Ambiguität einen spezifischen Handlungsrahmen konstituiert.62 Darauf beziehen sich bereits 1981 de Beaugrande & Dressler, deren Einführung in die Textlinguistik heute immer noch als Klassiker der sprachwissenschaftlichen Texttheorie gilt. Hier wird intendierte Ambiguität als „Polyvalenz“ bezeichnet, für deren kommunikative Bewältigung der Kommunikationsmodus ‚Gespräch‘ eine ganz besondere Bedingung bereithält: Im Gespräch kann durch Nachfragen eine Disambiguierung bewusst herbeigeführt werden, denn „unter normalen Bedingungen werden Sprachbenutzer“ in Gesprächen „bestrebt sein, auftretende Mehrdeutigkeiten so wirksam als möglich zu beseitigen. Auf Mehrdeutigkeiten zu bestehen hieße die Kommunikation vereiteln.“63 Der im Folgenden diskutierte Fall arbeitet mit solch einer bewusst in Kauf genommenen Vereitelung, bei der die Disambiguierungsmöglichkeiten des Gesprächs teils versäumt, teils in Frage gestellt, ja sogar subvertiert werden. Im Gespräch ist eine Annäherung an die relative Eindeutigkeit bei unklaren argumentativen Lagen eigentlich möglich. Wenn dies, wie in dem nun zu erörternden Fall, nicht gelingt, bleiben alle Beteiligten im Zustand des Zweifels zurück.

Im Fortgang werden Fragen der Kommunikationsmodi, des rhetorischen Argumentierens, und hier insbesondere Strategien der Textambiguierung am Beispiel des genannten berühmten literarischen Dialogs verhandelt. Der im Corpus platonicum überlieferte Kleinere Hippias, auch Hippias II genannt, wird meistens als Frühwerk Platons eingeordnet.64 Hier soll er nicht philosophisch oder philologisch, sondern unter rhetoriktheoretischer Perspektive gelesen werden. Dabei wird der gesamte Text einer Interpretation more rhetorico unterzogen. Der Tektonik des Dialogs entlang beginnt alles mit Überlegungen zur Grundproblematik der Differenz von Monologischem und Dialogischem, von Rede und Gespräch, von Rhetor und Philosoph. Das Ambiguitätsproblem zeigt sich dann beim Durchgang durch die verschlungenen Argumentationswege des Gesprächs, die am Ende verheddert bleiben. Das analysierte Gespräch ist gekennzeichnet von logischen und semantischen Unklarheiten, die ihren Grund in der Unaufgedecktheit von Ambiguitäten haben. Am Schluss steuert die Diskussion argumentativ in die Aporie, weil beide Seiten nicht gemeinsam zu Vereindeutigungen ihrer Aussagen finden.

Im platonischen Hippias II zieht Sokrates den erfolgreichen Redner Hippias in ein Gespräch und weist ihm nach, dass dessen gerade in einer Rede vorgebrachte Thesen zu zwei berühmten literarischen Figuren des Homer (Achilles und Odysseus) sehr fragwürdig sind. Der Beitrag soll den Argumentationsgang des Dialogs untersuchen, der mit einer Reihe höchst ambiger Prädikationsoperationen arbeitet, alle Beteiligten in ein logisches Labyrinth führt und in den Zweifel stürzt. Daher ist es kein Zufall, dass das letzte Wort des Textes „Verirren“ lautet. Der ganze Dialogtext besteht, thematisch gesehen, aus drei Teilen: Im ersten Teil wird die Rahmenhandlung exponiert und ein Gegensatz von einerseits Rhetorik und monologischer Redekunst (vertreten durch Hippias) und andererseits Philosophie und dialogischer Gesprächskunst (vertreten durch Sokrates) aufgebaut. Im zweiten Teil wird über die Frage diskutiert, wer von den beiden homerischen Figuren Achilles und Odysseus der Bessere ist. Im dritten Teil wird die Diskussion auf die Frage von „gut“ und „schlecht“ im Allgemeinen zugespitzt.65

1 Rhetorischer Monolog oder philosophischer Dialog? (Erster Teil des Dialogs)

Platons Text führt uns in eine Szene, die sich in historischer Zeit gegen Ende des 5. Jahrhunderts in Olympia hätte abspielen können. Neben den sportlichen Wettkämpfen finden bei den historischen Olympischen Spielen immer auch künstlerische Wettstreite statt. An ihnen nimmt der berühmte Sophist Hippias von Elis regelmäßig teil. Auch diesmal, so erfahren wir aus Platons Dialog, tritt Hippias im Wettkampf (agōn) an und ist, wie so oft, erfolgreich. Wer ist dieser Hippias? Er gehört zur Gruppe der teils als Wanderlehrer, teils als Philosophen, teils als Rechtsanwälte, Politikberater oder Redenschreiber (Logographen) auftretenden Sophisten. Unter ihnen nimmt er für sich in Anspruch, in idealer Weise die Autarkie des Sophisten zu repräsentieren, allseits gebildet zu sein, allseits befähigt und tüchtig, sowohl in den handwerklichen als auch in den wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen.

Hippias versteht es, seinen Schmuck, seine Schuhe und seine Kleider herzustellen. Ja, sogar im Denksport und in der Erinnerungskunst ist er ein Meister. Genauso gewandt ist er im Herstellen aller Arten von Texten, seien es dichterische oder rhetorische. Sokrates verweist auf ein entsprechendes Selbstlob des Hippias auf dem Markt, dessen Zeuge er war, und wobei Hippias viele der genannten handwerklichen Kompetenzen als die seinen herausgestrichen habe. Dort war dann auch von Hippias’ gerade erwähnten Textkompetenzen die Rede: „Überdies hättest du Gedichte (poiēmata) bei dir gehabt, epische und Tragödien und Dithyramben und ungebunden [in Prosa] gar viele und mancherlei ausgearbeitete Vorträge [Reden, lógoi]. Und so wärest du in jenen Künsten (téchnai) also, deren ich vorhin erwähnte, als ein Meister hingekommen, ausgezeichnet vor den andern, und auch im Tonmaß und Wohllaut [also Versmaß und Harmonie] und der Sprachrichtigkeit [Grammatik], und noch überdies in vielen andern, wie ich mich gar wohl zu erinnern glaube. Wiewohl, dein Erinnerungskunststück habe ich ganz vergessen, wie es scheint, worin du glaubtest am meisten zu glänzen“ (368c–d). Bald werden wir sehen, dass gerade diese Künste, die Künste des Dichtens, des Reden-Haltens und des bloßen Memorierens für Sokrates wie für seinen Schüler Platon nur Scheinkünste und damit fragwürdig sind.

Heute würde man bei Hippias von einem vielseitig gebildeten Menschen sprechen, der Kopf- und Handarbeit verbindet und es auch versteht, sich mit pragmatischem Bewusstsein in der Welt zurechtzufinden. Damals freilich hatte sich Hippias der Kritik des Philosophen Platon auszusetzen. Und Christoph Martin Wieland, der Weimarer Zeitgenosse Goethes, übernahm diese platonische Sicht im 18. Jahrhundert in seinem berühmten Roman über die Geschichte des Agathon. Darin wird Hippias zum Herrn und Lehrer Agathons, des der Welt als das Gute geschenkten Jünglings (so die Bedeutung seines sprechenden Namens). Anders als der individual-ethisch gefestigte, mit zahlreichen inneren Tugenden begabte Idealist Agathon wird Hippias im ersten Teil des Romans als Realist, als Weltkind, als weltmännisch und weltläufig hoch begabt, mit Neigungen zum philosophischen Materialismus und Relativismus, zum Ästhetizismus und zum politischen Opportunismus dargestellt, kurz: als Prototyp des negativ gesehenen Sophisten. Wieland scheute sich in seiner Werkausgabe von 1794 nicht, Hippias in einer Fußnote sogar mit den Jakobinern der Französischen Revolution, die er „Demagogen“ nennt (II,1), auf eine Stufe zu stellen. Man sieht daran, dass auch die Nachwelt in platonischer Tradition Sophisten wie Hippias kein gutes Zeugnis ausstellte, obwohl wir historisch keine genauere Kenntnis von ihm haben.66 Wieland kannte die beiden Hippias-Dialoge des platonischen Corpus (den Hippias minor und den Hippias maior) gut und hat aus ihnen sein literarisches Bild des Sophisten für den Agathon extrahiert.

Zurück zu unserem Platon-Dialog Kleinerer Hippias. Hier tritt der nach allgemeiner Einschätzung hoch befähigte und entsprechend von sich eingenommene Hippias bei den künstlerischen olympischen Disziplinen in der Disziplin Rhetorik an. Bewertet wird dabei eine ‚große Rede‘ (makròs lógos, 373a), d.h. ein in sich geschlossener monologischer Vortrag. Er hat den Charakter einer eigens für die Olympiade hergestellten Deklamation, also einer Schau- oder Konzertrede, für die der Terminus technicus „Vorzeigerede“ steht (griech. epídeixis, 363d, 364b; lat. demonstratio). Dieser Begriff erklärt sich daraus, dass eine oder mehrere Personen oder Sachverhalte in den Mittelpunkt der Rede gestellt, gewissermaßen vorgezeigt (im Fall von Leichenbegängnissen etwa auch leibhaftig ausgestellt) werden. Im vorliegenden Fall sind es Dichtwerke und literarische Helden wie Achilles und Odysseus aus den großen Erzählwerken des Dichters Homer. Sie werden zum Thema gemacht und in der monologischen Rede rhetorisch lobend oder tadelnd umkreist. Jeder aus dem Publikum darf im Anschluss an den olympischen Redevortrag nachfragen, wenn noch Klärungsbedarf besteht.

Der Rede-Wettkampf ist zugleich ein Denksportwettkampf, ein Wettkampf auf dem Gebiet der diánoia, also jener Denkfähigkeit, der Aristoteles später in seiner Poetik ein eigenes Kapitel widmet, worin er diese kognitive Seite der Interaktion mittels Text dem Gebiet der Rhetorik zuweist (Arist. Poet. 19). Und schon in der Antike wird auch dem Dichter Homer, dem Archegeten der europäischen Literatur, zugeschrieben, dass er mit Hesiod, dem anderen großen Urdichter der Griechen, in einen Dichterwettstreit treten musste. Dabei hatten sich beide in monologischem Textvortrag durch Rezitation aus ihren Werken und im Rätsellösen aufgrund zahlreicher gestellter Fragen sowohl als Geistesgrößen als auch als Sprachmeister zu bewähren (Schadewaldt 1942).

In dieser Art Wettstreit sieht Friedrich Nietzsche einen bei den Griechen tief verwurzelten Gedanken;

er ist „der ‚Exclusivität‘ des Genius im modernen Sinne feindlich“, aber setzt bei den Griechen voraus, dass, „in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere e Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie“ – „wetteifernd begegnet der Sophist, der höhere Lehrer des Alterthums, dem anderen Sophisten; selbst die allgemeinste Art der Belehrung, durch das Drama, wurde dem Volke nur ertheilt unter der Form eines ungeheuren Ringens der großen musikalischen und dramatischen Künstler. Wie wunderbar! ‚Auch der Künstler grollt dem Künstler!‘ Und der moderne Mensch fürchtet nichts so sehr an einem Künstler als die persönliche Kampfregung, während der Grieche den Künstler nurimpersönlichen Kampfe kennt. Dort wo der moderne Mensch die Schwäche des Kunstwerks wittert, sucht der Hellene die Quelle seiner höchsten Kraft!“ – „Welches Problem erschließt sich uns da, wenn wir nach dem Verhältniß des Wettkampfes zur Conception des Kunstwerkes fragen!“ (Nietzsche 1870–73, 789–792)

Hippias tritt in Olympia – wie gesagt – mit einer großen monologischen Rede im Wettstreit an. Für diese Art von Reden verwenden Platon und die spätere Rhetoriktheorie den Funktionalgattungsbegriff epídeixis (Vorzeigerede). In der innerliterarischen Welt unseres Dialogtextes finden sich auch Sokrates (historisch um 470–399 v. Chr.) und der junge Philosoph Eudikos als Zuhörer ein. Das Redethema sind die griechischen Dichter, insbesondere auch Homer, der größte unter ihnen. Der Vortrag geht auf zwei Homer zugeordnete Werke ein: die Ilias mit ihrem Hauptprotagonisten Achilles und die Odyssee mit der Hauptfigur Odysseus, der auch in der Ilias eine wichtige Rolle spielt. Hippias entwickelt als These, dass beide Werke einen deutlichen Qualitätsunterschied aufweisen, und dass sich dieser Qualitätsunterschied in der Persönlichkeitsqualität der beiden Protagonisten Achilles und Odysseus spiegele.

Als der olympische rhetorische Wettkampfbeitrag des Hippias vorüber ist, verlassen die vielen Zuhörer den Tempel, in dem der Redevortrag stattfand. An diese zeitliche Stelle nun versetzt uns Platons Dialogtext. Die Handlung setzt damit ein, dass Eudikos, Sokrates und Hippias vor dem Tempel zurückbleiben, nachdem sich das Publikum zerstreut hat. Sokrates wartet, weil er noch ein Anliegen hat. Er leitet sein Vorhaben geschickt mit zwei Provokationen ein. Die erste Provokation besteht darin, dass er, der sonst nie ums Wort verlegen ist, demonstrativ schweigt, den Redebeitrag des Hippias weder rühmt noch tadelt. Wie von Sokrates offenkundig geplant, hakt Eudikos hier ein und erkundigt sich bei Sokrates, dem Meister in der Philosophie gelehrten Gesprächs, wie es heißt, nach dem Grund.

Erwartungsgemäß reagiert Sokrates nun sofort und löst ein Gespräch aus, in dessen Mittelpunkt der kommunikative Schlüsselbegriff des Fragens steht (die erōtēsis). „Ich trug Bedenken, dich weiter zu fragen“, sagt Sokrates, „weil viel Volks drinnen war, und um dir nicht Störung zu machen durch mein Fragen in deiner epídeixis. Nun wir aber weniger sind und Eudikos mir zuredet zu fragen, so sprich doch und lehre uns deutlicher, was du sagtest von diesen beiden Männern“ (364b-c). Eudikos ist sich sicher, dass Hippias auch das Nachfragen gestattet, und bemerkt mit dem Ausdruck größter Hochachtung für Hippias gegenüber Sokrates: „Offenbar wird dir ja Hippias nicht abschlagen, wenn du ihn etwas fragst, zu antworten. Nicht wahr, Hippias, wenn Sokrates dich etwas fragt, wirst du antworten? Oder was wirst du tun?“ (363c). Aber natürlich werde er das, beruhigt ihn der selbstbewusste Hippias, der sich bei seinem Ehrgefühl gepackt sieht. Es wäre ja arg, wenn er jedes Mal im Tempel bei den Olympiaden auftrete, dabei stets bereit sei, „jedem zu antworten, der mich nur was immer fragt, jetzt aber des Sokrates Frage ausweichen wollte“ (363d). Und nachdem Sokrates doch noch einmal zweifelnd nachsetzt, um Auskunft hinsichtlich Homer bittet und Hippias auf die für das klärende Gespräch nötige Geduld festlegen möchte, beteuert Hippias neuerlich seine offene Haltung gegenüber dem Dialogischen des Gesprächs: „Das wäre ja schändlich, Sokrates, wenn ich andere zwar eben hierin unterwiese und mir Geld dafür geben ließe, selbst aber, von dir befragt, keine Nachsicht beweisen und dir nicht sanftmütig antworten wollte“ (364d). Ganz nebenbei wird Hippias hier auch noch zu dem Geständnis veranlasst, seine Dienste als Lehrer für Geld anzubieten, was ihn in den Augen der begüterten Freizeitphilosophen in der griechischen Sklavenhaltergesellschaft, die das Publikum für Platons Dialogliteratur darstellen, von vornherein deklassiert.

Wir als Leser fragen uns bei diesen lang ausgeführten Fragen zur Frage des Fragens inzwischen, ob Platon den Einstieg in seinen Dialog hier nicht vielleicht doch etwas zu umständlich angelegt hat. Keineswegs! Der Autor Platon baut mit diesem Dialogkomplex gleich zu Beginn einen Gegensatz auf zwischen den Kommunikationsmodi a) der monologischen Rede und b) des Gesprächs. Die Frage, das Erotema, ist die entscheidende Operation im Gespräch, die die Gedankenbewegung in Gang setzt, die das Kritische, das noch nicht Aufgedeckte letztlich aufdeckt, das dem Redner selbst Entgangene im Moment der Frage geradezu hervorzieht und schließlich das Neue, das Unerwartete entdeckt. Man kann sagen: Die Frage ist der Kopf und das Herz des Gesprächs. Freilich kann dieses Aufwerfen von Fragen auch sehr indirekt als Teil einer Strategie der Resonanzerzeugung stattfinden.

Allerdings können Gespräche viele Fallstricke ausspannen. Wir werden dies auch im Hippias II sehen. Wie Aristoteles67 hat der Philosoph Arthur Schopenhauer die teils trickreichen, teils raffinierten sophistischen Argumentationsmanöver, die in rasch dahinlaufenden Gesprächen auch unwillentlich im Eifer möglich sind, unter dem Sammelbegriff Eristik in 38 „Kunstgriffen“ zusammengestellt. Schopenhauer bezieht sich dabei auch auf platonische und aristotelische Texte. Es wird sich zeigen, dass Sokrates diese Kunstgriffe, vor allem aber die Fragekunst als solche, im Dialog meisterlich beherrscht. Damit kann Sokrates seine Gegenbehauptungen gegenüber Hippias bis zum Schluss plausibel erscheinen lassen. Bei Schopenhauer spiegelt sich dies in der Feststellung:

Wenn die Disputation etwas streng und formell geführt wird und man sich recht deutlich verständigen will; so verfährt der, welcher die Behauptung aufgestellt hat und sie beweisen soll, gegen seinen Gegner fragend, um aus seinen eigenen Zugeständnissen die Wahrheit der Behauptung zu schließen. Diese erotematische Methode war besonders bei den Alten im Gebrauch (heißt auch Sokratische): auf dieselbe bezieht sich der gegenwärtige Kunstgriff und einige später folgende. (Sämtlich frei bearbeitet nach des Aristoteles Liber de elenchis sophisticis, 15.) Viel auf ein Mal und weitläuftig fragen, um das, was man eigentlich zugestanden haben will, zu verbergen. – Dagegen seine Argumentation aus dem zugestandenen schnell vortragen: denn die langsam von Verständnis sind, können nicht genau folgen und übersehn die etwaigen Fehler oder Lücken in der Beweisführung (Schopenhauer 1830/31, 47, Kunstgriff 7).

Das Wechselspiel von Frage und Antwort mit verteilten Rollen als Bewegung des Denkens ist in der monologischen Rede nicht in gleicher Weise vorgesehen, weil nur gesagt oder vorgetragen wird, was eine einzige kognitive Instanz verantwortet, nämlich die des einen Orators. Daher sagt Hippias, dass er bei der Olympiade im Tempel dem Publikum nur etwas von dem „schon Vorbereiteten“ zur Auswahl für seinen Redeauftritt anbiete (363d). Der Redner bereitet also seine Texte für die Olympiade vor und stellt ihre Themen zur Wahl. Dann kann er das Präparierte, also den vorgefertigten Redetext, vortragen. Die mit der „langen Rede“, dem Logos des Rhetors, verbundene Präparation aber besteht darin, dass er ein Konzept hat, dass er vorher Material sammelt, dass er Argumente ordnet und alles so konzipiert, dass sein Beweisziel später im Moment des Redevortrags plausibel wird: also etwa die These, dass der Held Achilles besser sei als der kluge Odysseus. Fragen sind im Kommunikationsmodus des Monologs höchstens als ‚rhetorische Fragen‘ in den Text eingebaut, denn der allwissende Urheber des Redetextes braucht die formalgrammatische Struktur der Frage ja nur, um sein Publikum durch den Fragegestus anzuregen. In Wirklichkeit sind rhetorische Fragen lediglich camouflierte Aussagen. Die sich an den präparierten Vortrag der Rede anschließende Befragung durch das Publikum ist davon situativ abgetrennt zu sehen und stellt auch nur ein Nachfragen dar, keine wirkliche Diskussion im Rahmen eines gesprächsweisen Logos, worauf Sokrates aus ist.

In unserer Olympia-post-stage-Szene mit den drei Personen Sokrates, Eudikos und Hippias, deren Diskussionsrunde sich wohl auch noch einige andere Zuhörer zugesellt haben, geht es also nicht um rhetorische Fragen, sondern um echte Fragen. „Allerdings, Eudikos“, sagt Sokrates, „habe ich einiges, was ich ganz gern erfragen möchte vom Hippias über das, was er eben sprach vom Homeros“ (363a). Und die Tatsache, dass beide, Sokrates und Eudikos, unsicher sind, ob sich Hippias darauf einlassen wird, ist bereits ein Misstrauensbeweis gegenüber dem Sophisten. Hier wird subtil unterstellt: Die Sophisten reden viel, behaupten viel und ziehen sich dabei auf den Modus des Monologisierens zurück, um nicht angreifbar zu sein. Mit seiner ersten Provokation ist es Sokrates aber doch gelungen, Hippias in den Dialog zu ziehen, sich auf die Erotesis in der Diskussion einzulassen und das von ihm selbst aufgeworfene Thema der Differenz zwischen beiden genannten literarischen Figuren in einem anderen kommunikativen Verfahren, nämlich dem des Gesprächs, neu zu verhandeln.

Dabei kommt Eudikos und Sokrates die Eitelkeit des Hippias zustatten. Auf sie ist die zweite Provokation des Sokrates gerichtet. Und aus ihr gewinnt er sein erstes Beweisziel. Um dies für uns Leser gelingen zu lassen, geht Sokrates nun zum Sprechakt des Schmeichelns über, der bei Hippias prompt die gewünschte Reaktion zeitigt. Sokrates sagt: „In einem glückseligen Zustande befindest du dich, Hippias, wenn du jede Olympiade, so guter Zuversicht für deine Seele (psychē), was Weisheit (sophía) betrifft, zum Feste kommst“; gewiss könne kein anderer so fest auf seine Verstandestätigkeit (diánoia) vertrauen wie er. Darauf Hippias ohne jeden Selbstzweifel: „Ganz natürlich, o Sokrates, daß es mir so ergeht“; denn seit er, Hippias, an den Spielen teilnehme, habe er nie einen getroffen, „der in irgend etwas vortrefflicher gewesen wäre“ als er selbst. Bei so viel Eigenlob bleibt Sokrates nur noch als ironische Reaktion der Ausruf: „Ein schönes Denkmal der Weisheit, o Hippias“! (364a–b).

Uns Lesern wird nun klar, dass dieses Denkmal (Platon bezieht seine Denkmalmetapher hier vermutlich auf die oft aufgestellten Olympioniken-Statuen) gestürzt werden wird, und wir ahnen, dass eines der Beweisziele des sich jetzt anbahnenden Gesprächs darin besteht, im Fall des Sophisten Hippias am Ende zu erweisen, dass dieser ganz ohne Weisheit dasteht. Der Orator soll sich nach der aristotelischen Ethos-Lehre, bei der es um die Selbstdarstellung des Rhetors geht (sein Image), durchaus als sachkundig, integer und wohlwollend darstellen (Knape 2012b, 105–128). Er soll auf seine Reputation bauen. Hippias freilich soll als eitler, für Schmeichelei anfälliger und intellektuell hilfloser Akteur bloßgestellt werden. Dahinter versteckt sich als Bestandteil dieses Beweisziels auch noch der Nachweis, dass sophistische Oratoren überhaupt und mit ihnen die ganze Rhetorik, die auf die Kunst des monologischen Überzeugens festgelegt ist, nicht zur Mitwirkung an wahrer Erkenntnisgewinnung, wie sie letztlich nur in der Diskussion stattfindet, in der Lage sind.

In historischer Zeit, sehr viel später, gegen Ende seines philosophischen Wirkens, wird Platon im Phaidros schließlich doch noch zwei wichtige Schritte auf die Rhetorik zugehen: (1) Er wird die Arbeitsteilung von erkenntnisschöpfender Philosophie und erkenntnisvermittelnder rhetorischer Kommunikation akzeptieren und sich daher (2) um den Entwurf einer Reformrhetorik bemühen. Sie soll sich auf alle kommunikativen Interaktionsformen erstrecken. Man kann sagen, dass sein Schüler Aristoteles dieses Programm fortentwickelt und ausgeführt hat. Platon formuliert dabei die erste und bis heute gültige Kurzdefinition der Rhetorik und schreibt ihr implizit Ubiquität, d.h. allgemeine Reichweite, zu: „Ist also nicht überhaupt die Redekunst (rhētorikē) eine Seelenleitung (psychagogía) durch Reden (lógoi), nicht nur in Gerichtshöfen und was sonst für öffentlichen Versammlungen, sondern dieselbe auch im gemeinen Leben und in kleinen sowohl als großen Dingen“? (Plat. Phaidros 261a; Übers. n. Schleiermacher).

Im Hippias minor, der meist als Frühdialog Platons angesehen wird, ist Platon noch weit von dieser Sicht entfernt. Der Dialog führt aber einen zweiten Beweis: nämlich den, dass es jenseits der Sophistik einen philosophischen Orator, Sokrates, gibt, der im Modus des Gesprächs (mit dem sich die Rhetoriker zu dieser Zeit nicht theoretisch befassen) in der Lage ist, Peitho (lat. persuasio), also das Überzeugen, auf brillante Weise zu erreichen. Ja, dieser Orator ist unter den im Vergleich zu den monologischen Settings anders strukturierten und für ihn kommunikativ erschwerten Bedingungen des dialogischen Modus sogar äußerst erfolgreich.68

2 Ambiguitäten und logische Probleme (Zweiter Teil des Dialogs)

2.1 Wert der Kommunikationsmodi Rede und Gespräch

Um seine Beweisziele zu erreichen, beschäftigt sich Platon ausführlich mit den kommunikativen Modi und bestimmten Formen der Argumentation.69 Und um die Unfähigkeit der Sophisten zu erweisen, baut er eine Opposition von monologischer und dialogischer Rede auf, die sich auch in der Opposition der Kommunikatoren spiegelt, nämlich im selbstsicheren Sophisten und Rhetor Hippias, der Gewissheit für sich reklamiert, auf der einen sowie dem zweifelnden Philosophen Sokrates, der die Ungewissheit ins Spiel bringt, auf der anderen Seite. Hippias wird zwar mit List der Scheingewissheit überführt, doch es soll am Ende ja auch nur um die Botschaft gehen, dass ein Hippias als rhetorischer Gewissheitsbeschaffer nicht in der Lage ist, die Grundlage seiner eigenen Gewissheit auf dem Niveau des wahren Philosophen wirklich zu prüfen. Und damit soll auch sein Kommunikationsmodus, der der monologischen Rede, als Methode zur Erzeugung von bloßer Scheingewissheit bloßgestellt werden.

In letzter Konsequenz will Platon also Fundamentalkritik am Monologismus und damit an der Rhetorik üben. Diese Kritik findet sich im Corpus platonicum vielfältig realisiert. Im Hippias minor geht es um die Kommunikationsmodi Rede und Gespräch. Generell aber hat es die platonische Kritik sehr viel weiter greifend mit bestimmten Textsorten und Performanzweisen bzw. setting-, medien- und texttheoretischen Problemen zu tun.70

2.1.1 Platons Schriftkritik als Kritik am Monologismus

In seinem bereits erwähnten späten Dialog Phaidros findet sich mit Platons berühmter Schriftkritik eine weitere Ausprägung all dieser Überlegungen. Platon setzt in diesen Ausführungen (274b–277a) auf den kommunikationsanalytischen Ebenen von Setting und Medium an und reflektiert dann die Konsequenzen für jeglichen philosophisch relevanten Erkenntnisgewinn aus monologischen Texten:

  1. Im Fall der Verschriftlichung wird das im menschlichen Körper angesiedelte Gedächtnis (die mnēmē) als Bestandteil des korporalen Mediums zum Speichern von Informationen und damit das kognitive Bewusstseinselement des Menschen aus seinem Körper herausgenommen und körperexternen technischen Medien wie Tafeln, Papyri usw. übergeben. Dabei werden die zu speichernden Redetexte mittels Notationszeichen, die vom seelischen Zusammenhang des einzelnen Menschen abgekoppelt sind, in einen ganz bestimmten Aggregatzustand überführt. Dieser fixierte Textzustand ist für das Monologische typisch, wohingegen im Dialog text in progress vorliegt und damit textlich eine fundamentale Beweglichkeit herrscht. Das aber hat seinerseits fundamentale Auswirkungen auf den Erkenntnisprozess.
  2. Eine anwendungsbezogene Theorie (téchnē) kann man nicht aus einem bloß schriftlich niedergelegten Text lernen; solche Schrifttexte können nur dem Kenner als Hilfsmittel, nämlich als Erinnerungsstütze, dienen. Theorien müssen also dialogisch-interaktional, in praxi erlernt werden, Karl Bühler würde sagen: Sie müssen „empraktisch“ eingebunden erlernt werden.
  3. Mittels Schrift notierte Texte geben, weil sie einen festen Aggregatzustand gefunden haben, immer wieder nur ein und dieselbe Formulierung von sich, verweigern sich der öffnenden, weiterführenden Nachfrage. Das ist das grundlegende Defizit bei jeglichem Monologismus und seinen Texten im entsprechenden Kommunikationssetting, d.h. in der Dimission (Distanzkommunikation, bei der die Interaktionspartner nicht mehr körperlich anwesend sind). Solche schriftfixierten sprachlichen Texte sind in dieser Hinsicht wie Malereien, sagt Platon. Auch diese können nur als unidirektionale Kommunikationsinstrumente im monologischen Modus fungieren. Sie verweigern sich der Kernoperation des Dialogischen, nämlich der Frage: Auch die Malerei „stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still“, sagt Sokrates ironisch. „Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets“ (Plat. Phaidros 275d).
  4. Der Schrifttext bedingt oratorischen Kontrollverlust. Verschriftlichung der Rede dient der Dimission, der Distanzkommunikation über Raum und Zeit hinweg, trägt die Information aus der Situativik des Sprechers heraus. Dabei kann der Sprecher jedoch die Adressatengruppe und die Reichweite der Verbreitung nicht mehr kontrollieren. Diese Rezeptionskontrolle aber könnte für manche Oratoren eben doch wichtig werden, etwa wenn man den Zugang zur Information esoterisch halten, nur auf Eingeweihte begrenzen will. Daran denkt Platon durchaus.
  5. Der Schrifttext ist immer angreifbar und wehrlos. In der Dimission verliert der Sprecher seine Interventionsmacht im kommunikativen Geschehen, denn der vom Sprecher abgetrennte monologische Schrifttext ist jeder Art von Missverstehen und Missbrauch ausgesetzt, weil ihm der Autor nicht mehr erklärend zu Hilfe kommen, der abwesende Sprecher in diesem Sinn nicht mehr dialogisch intervenieren kann. Der Texturheber (Autor) kann keine Ambiguität mehr auflösen. Die körperextern medialisierte, also auf einem technischen Textträger angebrachte, d.h. geschriebene Rede, die dimissiv von ihrem Urheber als Sprecher abgekoppelt ist und zu einem frei umherschweifenden Text wird, ist der Adressatenwillkür ausgeliefert. Dazu Sokrates: „Und wird sie [die aufgeschriebene Rede] beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters [des Autors oder Sprechers] Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen“ (275e).

Es gibt aber einen Redemodus, sagt Sokrates angesichts solcher Kritik am Monologismus des Schrifttexts schließlich, der die wahre Einsicht befördert, bei dem die Kontrolle über Reden und Schweigen, was beides abgewogen sein will, möglich ist. „Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden“, sagt Phaidros, „von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte“: Es ist das Gespräch (276a).

2.1.2 Systematische Aspekte

Um all diese bei Platon auftauchenden Überlegungen unter moderner kommunikations- und rhetoriktheoretischer Perspektive neu zum Sprechen zu bringen, haben wir sie bislang an vier analytische Ebenen geknüpft, die jetzt noch einmal kurz zusammengestellt werden sollen, bevor wir uns wieder dem Hippias minor intensiver zuwenden.

  1. Setting: Auf dieser Ebene werden alle Kommunikationsbedingungen untersucht, die als Frame für das Interaktionsgeschehen in Betracht kommen. Das Setting reguliert insbesondere auch den textbezogenen Kommunikationsmodus als Interaktionsform.
  2. Kommunikationsmodus: Hier unterscheiden wir die monologische Rede und das dialogische Gespräch. „Für den empirisch ansetzenden Rhetoriker ergibt sich die Differentia specifica aus der definitorischen Verbindung mindestens dreier Kriterien: Empirisches Performanzmodell, Settings, Textmerkmale.“ (Knape 2009, 16). Sie lassen sich von maßgeblichen Ebenen des rhetorischen Kalküls eines Orators herleiten.

    Rede

    Legt man diese Kriterien zu Grunde, lässt sich der Kommunikationsmodus Rede unter rhetorischen Prämissen folgendermaßen bestimmen:71

     

    Performanzmodell: Monologische Aktionsform, d.h. seitens eines Orators unilaterale, unidirektionale und performativ kontinuierliche Ansprache an Adressaten, die im Ereigniszusammenhang keine Oratoren sind.72

     

    Setting: Kommunikative Rahmenbedingungen, Anlässe, soziale, rituelle oder situationale73 Vorgaben, die kein Turn taking zwischen verschiedenen Rednern im Verlauf der Performanz des Redetextes vorsehen oder nötig machen; dabei hat die Rede ihren genau definierten Platz im Ablaufschema des Kommunikationsereignisses. Ein Sonderfall liegt vor, wenn die Rede in einen Makroereignisrahmen eingebunden ist, der eine Serie solcher durch Usus, Ritual oder Geschäftsordnung genau definierter Redeereignisse vorsieht (z.B. Parlamentsdebatte); oft wird die Rede dabei mit weiteren Kommunikationsarten kombiniert (z.B. einer anschließenden Diskussion) oder dem Publikum werden Parallelaktionen erlaubt (z.B. Zwischenrufe, paralinguistische oder sonstige Reaktionen).74

     

    Textmerkmale: Auf nur einen (eventuell auch kollektiven) Orator als Urheber und seine Strategie beziehbare Kohäsions- und Kohärenzmerkmale.

     

    Gespräch

    Der Kommunikationsmodus Gespräch ist wie folgt zu bestimmen:

     

    Performanzmodell: Dialogische Interaktionsform, d.h. es treten mindestens zwei Oratoren auf. Sie äußern sich poly- oder bilateral, poly- oder bidirektional und performativ diskontinuierlich, aber mit direktem Bezug auf den jeweils anderen Orator, der kein passiver oder vom Reglement nicht als Sprecher zugelassener Adressat ist, sondern aktiver Kommunikationspartner und damit rhetorisch gesehen ein aktiver Gegenorator.75

    Setting: Kommunikative Rahmenbedingungen, soziale, rituelle oder situationale Vorgaben sowie Anlässe, die ausdrücklich das Turn taking zwischen verschiedenen Sprechern im Verlauf der kommunikativen Interaktion vorsehen oder nötig machen.76

     

     

    Textmerkmale: Auf mindestens zwei Oratoren beziehbare Kohäsions- und Kohärenzmerkmale. Insbesondere auf den Ebenen von Semantik und Stilistik werden die durch das Turn taking verursachten Diskontinuitäten des Textverlaufs manifest (sturkturbestimmendes Stichomythie-Prinzip, das unter Umständen scharfe semantische Richtungsänderungen erlaubt). Pragmatisch, meistens auch leitthematisch, formieren sich die Teiltexte des Gesprächs aber durchaus zu einem Gesamttext.77 Abweichend davon wäre ein misslungenes Gespräch als insgesamt inkohärente oder nur schwach kohärente Abfolge (letztlich monologischer) Äußerungen zu bestimmen (Knape 2009, 16–18).

  3. Die dritte analytische Ebene ist die des Mediums: „Ein Medium ist eine Einrichtung zur Speicherung und Sendung von Texten.“ (Knape 2005b, 22). Das Medium eröffnet den semiotischen Spielraum: Welche Art von Zeichen kann ich nehmen, z.B. nur akustisch performierbare, etwa bei einem antiken Rede-Agon in Olympia oder heute beim klassischen Telefon oder bei der klassischen Schallplatte oder CD, oder ausschließlich optisch performierbare, z.B. bei antiken Papyri, Inschriftentafeln aus Stein oder heute bei Printmedien. Das Medium reguliert die Textdistribution und -apperzeption. Der Text gelangt nur dahin, wohin ihn das Medium trägt.
  4. Die vierte hier interessierende analytische Ebene ist die des Texts bzw. der Textsorte: Wir sind hier auf der Ebene der Informations- und Zeichenverarbeitung angelangt, egal welches Zeichensystem man gerade wählt (Sprachzeichen, Bildzeichen usw.). Texte werden ganz wesentlich von den Restriktionsbedingungen der jeweils gewählten Gattung oder Textsorte reguliert. Ein situativ-mündliches Verkaufsgespräch stellt andere Anforderungen an die Vertextung von Informationen als eine Diskussion unter Philosophen oder ein Polizeiverhör; ein dimissiv-schriftliches Polizeiprotokoll stellt wiederum andere Anforderungen als eine Gebrauchsanweisung; ein Porträt andere als ein Landschaftsbild, um auch einmal das Zeichensystem zu wechseln.

2.2 Ambiguitäten in der genauen Untersuchung (sképsis)

Kommen wir zurück zum platonischen Hippias minor. Die Szenerie beginnt damit, dass ein rhetorischer Kommunikator eine Rede hält, und dann die Szene in eine Konstellation übergeht, in der drei Personen ein Gespräch führen. Sokrates beabsichtigt, nach dem Redewettkampf im olympischen Tempel einen zweiten Wettkampf im kleinen Kreis auszutragen: einen Agon zwischen dem Protagonisten der monologischen Rede und dem des dialogischen Gesprächs. Die nun anhebende, von Sokrates immer mehr in eine Art Lehrgespräch überführte Diskussion hat bestimmte Beweisziele, die sich an die Person des Sophisten Hippias und an den von ihm favorisierten Kommunikationsmodus knüpfen. Wie immer im rhetorischen Agon geht es darum, beim Adressaten gezielt einen mentalen Wechsel von Position A hin zu Position B herbeizuführen (Knape 2003, 875).

Zunächst die Ausgangsposition (= A) bei Hippias und uns Lesern:

A: Rede/Hippias = Konstruktion von Sicherheit des Denkens.

Am Ende werden zwei Ergebnisse (= B1 und B2) vor aller Augen stehen:

B1: Rede/Hippias = Die Konstruktion von Denksicherheit ist eine Illusion.

Sokrates will und kann ausschließlich den Gesprächsmodus akzeptieren, weil man nur bei ihm ins Detail gehen und Einzelelemente abwägen, mithin im eigentlichen Sinn analysieren kann.

B2: Gespräch/Sokrates = Dekonstruktion von Sicherheit des Denkens. Das Gespräch ist in der Lage, angebliche Sicherheit von Erkenntnis ad absurdum zu führen.

Diese Methode allerdings gefällt Hippias nicht, und er macht Sokrates im Verlauf der Diskussion auch entsprechende Vorwürfe. Sokrates ziehe bei einer Sache immer geradewegs das Schwierigste heraus, bleibe an solchen Details hängen und argumentiere selektiv: „Niemals aber streitest du gegen die ganze Sache, von der die Rede ist“, rügt Hippias unwirsch (369c). „Sokrates verwirrt einen immer im Gespräch“, sagt er (373b). Hippias selbst schwebt demgegenüber eine in sich rhetorisch abgerundete und geschlossen dastehende Argumentation in einem Redefluss vor, die der Redenverfasser vorher überlegt kohärent machen kann. Das aber wehrt Sokrates seinerseits ab, denn er sieht für den Monologismus im Wechselgespräch, von dem beide Seiten Nutzen haben könnten, keinen Platz: „Willst du nun eine lange Rede (makròs lógos) sprechen, so sage ich dir voraus, daß du mich nicht heilen wirst; denn ich könnte dir nicht folgen. Willst du mir aber so wie bisher antworten, so wirst du mir großen Nutzen schaffen und auch selbst, glaube ich, keinen Schaden davon haben“ (373a).

Die Differenz von Rede und Gespräch ist mehrfach Thema in den platonischen Dialogen. Im Gorgias bringt Platon diese Problematik begrifflich auf den Gegensatz von kurz und lang bzw. das Kurzreden (brachylogía) und das Langreden (makrología). Auch dort geht es Sokrates darum, den Rhetor – hier ist es Gorgias – zum Frage-Antwort-Spiel des Gesprächs zu bewegen. Gorgias ist (wie Hippias) sehr von seinen Fähigkeiten eingenommen und würde eigentlich auch eher die lange monologische Rede bevorzugen, doch seine Eitelkeit lässt ihn ebenfalls Zugeständnisse machen:

Sokrates: Möchtest du wohl, Gorgias, so wie wir jetzt miteinander reden, die Sache zu Ende bringen durch Frage und Antwort, die langen Reden aber, womit auch schon Polos anfing, für ein andermal versparen? Also, was du versprichst, darum bringe uns nicht, sondern laß dir gefallen, in der Kürze das Gefragte zu beantworten.

 

Gorgias: Es gibt zwar einige Antworten, Sokrates, die notwendig durch lange Reden wollen erteilt sein; dennoch aber will ich sie versuchen aufs kürzeste. Denn auch dessen rühme ich mich ja, niemand könne kürzer als ich dasselbe sagen.

 

Sokrates: Dies eben brauche ich, Gorgias. Eben hiervon gib mir ein Meisterstück von der Kürze (brachylogía), vom Langreden (makrología) aber ein andermal (Plat. Gorgias 449b-c; Übers. n. Schleiermacher).

Auch Hippias geht nur widerstrebend auf die Bedingung des Sokrates ein, sich ganz auf die auf turn take basierende Logos-Variante Gespräch einzulassen, die auch die knappe Wechselrede (die Stichomythie) enthält, wie es der Kommunikationsmodus des Dialogs vorsieht (Jens 1955). Nach dieser Vereinbarung über die Modalitäten der weiteren Interaktion kann Sokrates sein beabsichtigtes genaues Anschauen und Untersuchen, für das das griechische Wort sképsis steht, durchführen (Plat. Hipp. min. 372c). In der weiteren philosophischen Tradition wird dieser Begriff der Skepsis dann zum Synonym für eine Schulenbildung, in der die erörternde Endlosschleife des philosophischen Gesprächs zur Grundstruktur der Erkenntnisgewinnung wird; eine Methode, die bei philosophischen Fragen letztlich nie zu abschließend klaren, absolut eindeutigen oder völlig entschiedenen Lösungen führen kann.

Bevor wir uns dem nun einsetzenden Gespräch zwischen Sokrates und Hippias in der Sache zuwenden, sollen noch einmal kurz die offensichtlichen und die von uns als Teil der hidden agenda erschlossenen Beweisziele zusammengestellt werden:

  1. Hippias hält als Person und als führender Repräsentant der Sophisten keineswegs, was er verspricht und wofür ihm die öffentliche Anerkennung auch in Olympia gezollt wird, nämlich Weisheit zu besitzen.
  2. Die Person des Sokrates ist demgegenüber der beste Beweis dafür, dass es hervorragende Oratoren (d.h. auf Überzeugung eingestellte Kommunikatoren) unter den wirklichen Philosophen gibt.
  3. Der rhetorische Monologismus vermittelt nur Scheinerkenntnisse.
  4. Der philosophische Dialogismus ist in der Lage, die rhetorischen Scheinerkenntnisse zu dekonstruieren.
  5. Unter den beiden Kommunikationsmodi Monolog und Dialog ist der Dialog überlegen.
  6. Das philosophische Gespräch ist prinzipiell unabgeschlossen. Dass ganz am Schluss der uns überlieferten Textform des Hippias minor als allerletztes Wort das griechische plánē für die Unsicherheit, das Schwanken, Irren, Verirren und Herumirren steht, verweist auf die Notwendigkeit, weitere platonische Dialoge und damit die ganze in ihnen versteckte philosophische Lehre Platons als Einheit zur Kenntnis zu nehmen, wenn man in der Erkenntnis wirklich weiter kommen will (Erler 1987, 139–144). Der kurze Lebensmoment eines einzigen Gesprächs kann nicht weit genug in die philosophische Tiefe gehen.
  7. Die von Hippias aufgeworfene Sachfrage, ob Achilles oder Odysseus der bessere Mann ist, unterliegt ebenfalls dem „Schwanken“ und muss vielleicht auch offen bleiben (Erler 1987, 143). Jedenfalls lässt sich die Hippias-These von der Überlegenheit des Achilles nicht widerspruchslos aufrechterhalten, so zumindest möchte Sokrates es beweisen. Dieses siebte Beweisziel regiert vordergründig die gesamte Themenstruktur des Gesprächs. Die anderen genannten Beweisziele stehen im Hintergrund. In der modernen Forschung wird außerdem noch ein weiteres implizites Beweisziel diskutiert, das die platonische Ethikkonzeption als wissensbasiertes Vermögen des Menschen betrifft (Weiss 1981, Erler 1987, 139–143). In der Philosophie wird dieses Konzept der Gründung von Ethik auf rein kognitiven Fähigkeiten auch als ‚Sokrateischer Irrtum‘ verhandelt. Davon aber erst später mehr.

Die Diskussion beginnt damit, dass Hippias Gelegenheit bekommt, noch einmal seine Ausgangsthese vorzutragen (365a-b). Diese bezieht sich auf die beiden großen Helden der homerischen Dichtungen, insbesondere der Ilias: einerseits den Krieger Achilles, den größten Helden des Trojanischen Kriegs, um dessen Taten und Empfindlichkeiten sich die Geschichte ganz wesentlich dreht, andererseits den Intellektuellen Odysseus, der am Ende mit seiner List (des Trojanischen Pferds) den Jahrzehnte dauernden Krieg entscheidet.

In der vorangegangenen siegreichen olympischen Rede des Hippias ging es um die Bewertung dieser beiden Homer-Figuren. Hippias macht über sie Aussagen, die man mit dem formallogischen Begriff der Prädikation und hier insbesondere mit der zusammengesetzten Aussage und der Aussage zur Relation der Gegenstände (i.e. Achilles und Odysseus) verbinden kann. Hippias macht zwei Aussagen über die Gemütsart (den trópos) der beiden Männer und kommt dann zu einer schlussfolgernden Aussage zur Relation. Die beiden Thesen zur Gemütsart lauten:

  1. Die Gemütsart des Achilles war geradsinnig, einfach (haplūs) und infolgedessen aufrichtig oder wahr (alēthēs) oder echt.
  2. Die Gemütsart des Odysseus war vielgewandt oder vielfältig (polýtropós) und infolgedessen verlogen oder falsch (pseudēs).

Wir haben es hier also mit zwei Aussagegegenständen in Form von zwei Männern zu tun, denen Hippias jeweils zwei Prädikate in Form von Eigenschaftswörtern zuspricht: „einfach“ und „wahr“ sowie „vielgewandt“ und „falsch“. Solche Prädikate sind in der Logik allerdings nicht an irgendeine Wortart (z.B. das Adjektiv) gebunden, sondern sind Umschreibungen des Gegenstandes, auf den wir in der Kommunikation gewissermaßen zeigen, die die unterschiedlichste grammatische Form annehmen können (auch „Mann“ oder „Held“ wären Prädikate). Hippias macht über jeden seiner Gegenstände eine zusammengesetzte Aussage:

A ist einfach und A ist wahr

 

O ist vielgewandt und O ist falsch

Die beiden Prädikate werden allerdings jeweils in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht:

A ist wahr, weil A einfach ist;

verallgemeinernd auf Menschen bezogen heißt das:

Ein Mann ist wahr, immer wenn er einfach ist

d O ist falsch, weil O vielgewandt ist;

verallgemeinert heißt das:

Ein Mann ist falsch, immer wenn er vielgewandt ist

Die hier vorgenommene Verallgemeinerung gibt am Ende den Ausschlag für die Schlussfolgerung. Hippias bleibt nicht bei diesem Zwischenschritt, sondern setzt seine beiden Aussagegegenstände Achilles und Odysseus auch noch in eine Beziehung oder Relation zueinander (einer ist „besser“ als der andere). Beide Figuren werden über eine Vergleichsoperation in Relation gebracht, bei der das tertium comparationis, das Vergleichskriterium, nicht spezifiziert wird:

Achilles ist besser als Odysseus

 

(A besser als O)

Das Kriterium bei diesem nächsten Zwischenschritt wird zwar nicht genannt, doch für uns Leser und für Hippias liegt es zunächst einmal nahe, bei der Relation „besser“ an eine Spezifikation der moralischen Überlegenheit zu denken. Genau hier nun hakt Sokrates ein und versucht, Hippias auszuhebeln:

Sokrates: Wenn du nun sagst, tüchtig und weise wären auch die Falschen eben darin: Meinst du, daß sie tüchtig sind zu lügen, wann sie wollen, darin, worin sie eben lügen, oder untüchtig?

 

Hippias: Tüchtig, meine ich.

 

Sokrates: Um es also kurz zusammenzufassen: Die Falschen sind weise und tüchtig zu lügen?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Ein zum Lügen untüchtiger und unverständiger Mann wäre also nicht falsch?

 

Hippias: So ist es.

 

Sokrates: Tüchtig aber ist doch wohl jeder, der das, was er will, alsdann tut, wann er es will; ich meine aber nicht, wenn einer aus Krankheit daran verhindert wird, oder deß etwas; sondern so wie du vermögend bist, meinen Namen zu schreiben, wann immer du willst, so meine ich. Nennst du nicht den tüchtig, mit dem es so steht?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Sage mir also, Hippias, bist du nicht wohl erfahren im Rechnen und der Rechenkunst?

 

Hippias: Ganz vorzüglich, Sokrates. [366b–c]

 

[…]

 

Sokrates: Setzen wir also auch dies, Hippias: Es sei ein Mensch falsch in Rechnungen und Zahlen?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Wer also wäre dieser? Muß ihm nicht, wenn er falsch sein soll, das zukommen, wie du eben eingestandest, daß er tüchtig ist im Lügen? Denn von dem Untüchtigen im Lügen sagtest du, wenn du dich noch erinnerst, daß er nie falsch sein könne.

 

Hippias: Dessen erinnere ich mich, und so wurde gesagt.

 

Sokrates: Und zeigtest du dich nicht eben als der Allertüchtigste zum Lügen im Rechnen?

 

Hippias: Ja, auch das wurde gesagt.

 

Sokrates: Und bist du nicht auch der Tüchtigste, das Richtige zu sagen in Rechnungen?

 

Hippias: Allerdings.

 

Sokrates: Also derselbe ist der Tüchtigste, das Wahre und auch das Falsche zu sagen im Rechnen? Dies aber ist der Gute hierin, der Rechner?

 

Hippias: Ja (367a–c).

Ist ein „Falscher“ wie Odysseus denn auch untüchtig (adynatós), etwas zu tun, hat er etwa keine Befähigung? fragt Sokrates. Natürlich ist auch ein Falscher befähigt oder tüchtig (dynatós), er ist durchaus klug und kundig, etwa um andere zu hintergehen, sagt Hippias. Tüchtig sind sie also und vielgewandt, resümiert Sokrates. Damit ergibt sich:

O ist vielgewandt, O ist falsch

 

O ist falsch, O ist tüchtig

Tüchtig ist jeder, sagt Sokrates, der das, was er will, dann zu tun in der Lage ist, wenn er es will. Wer bei einer Rechenaufgabe lügen will, muss erst einmal die Rechnung gelöst haben, sonst würde er ja nicht lügen, also die falsche Lösung nennen können. Nur der im Rechnen tüchtige oder befähigte kann in Rechenfragen auch lügen. Hippias gibt Sokrates zu, „daß verlogene Menschen fähig seien, etwas zu tun, und betont, daß ihre Fähigkeit im Täuschen liege, wozu Verschlagenheit und Wissen gehören (365 D 7). Dadurch bietet er Sokrates die Möglichkeit, konsequent zu folgern, daß die verlogenen Menschen fähig, kundig, wissend und weise darin sein müssen, worin sie verlogen sind (366 A 3). Aus dieser Argumentation wird deutlich, daß es Sokrates um eine von Wissen geleitete Fähigkeit, nicht um eine moralische Qualität des Handelnden geht. Es wird nämlich angedeutet, daß es sich bei diesem Wissen um ein Fachwissen auf einem bestimmten Gebiet handelt“ (Erler 1987, 124).

Sokrates: Wer anders wird uns also falsch (pseudēs) im Rechnen, Hippias, als der Gute (agathós)? Denn der ist auch der Tüchtige (dynatós), der aber ist auch der Wahre (alēthēs)?

 

Hippias: So zeigt es sich.

 

Sokrates: Siehst du also, daß derselbe der Falsche ist und auch der Wahre hierin? Und der Wahre um nichts besser als der Falsche? Denn er ist ja derselbe, und keineswegs verhalten sie sich ganz entgegengesetzt, wie du vorhin meintest.

 

Hippias: Es scheint nicht, hierin wenigstens (367c–d).

Sokrates führt weitere Beispiele der Kompetenz in Astrologie und der Kunst des Messens an und geht dann zu den persönlichen, vielfältigen, auch handwerklichen Befähigungen des Hippias über, um die oben schon deutlich werdende, bemerkenswerte Identität zu behaupten (siehe auch Abb. 1):

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Abbildung 1

Diese Gleichung (hier mit dem Zeichen ↔ für „genau dann, wenn“) irritiert Hippias und jeden Leser zunächst einmal, weil dabei ein logischer Negationsgrundsatz verletzt scheint. Normalerweise heißt „wahr“ eben „nicht falsch“ und „falsch“ heißt normalerweise „nicht wahr“:

wahr heißt nicht falsch

falsch heißt nicht wahr

Wenn das stimmt, dann verletzt Sokrates wohl den logischen tertium non datur-Grundsatz. Er besagt, dass einem Gegenstand ein Prädikat entweder zu- oder nicht zukommt; etwas Drittes gibt es nicht (tertium non datur). Achilles könnte demnach nicht zugleich wahr und falsch sein. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass in den obigen Gleichsetzungen beim „Tüchtigen“ eine Ambiguität auftaucht, die zu dem fragwürdigen Schluss führt. Der Tüchtige ist nur im technischen Sinn der Wahre, und der Tüchtige ist in einem ganz anderen, im ethischen Sinn der Falsche. Dazu gleich mehr.

Sokrates scheint die Bedenken des Hippias nicht zu teilen. Für ihn ist der Beweis hinsichtlich des oben genannten expliziten siebten Beweisziels, das nichts mit den logischen Fragen als solchen zu tun hat, erbracht. Er kommt daher zu folgendem Ergebnis: „Jetzt aber, merkst du doch, hat sich gezeigt, daß der Wahre und der Falsche derselbe ist, so daß, wenn Odysseus falsch war, er auch wahr wird, und Achilleus der Wahre auch falsch, und daß die Männer nicht verschieden sind oder entgegengesetzt, sondern ähnlich“ (369b).

Sokrates macht also eine neue Aussage über die Beziehung oder Relation zwischen Achilles und Odysseus:

Achilles ist genauso wahr und falsch wie Odysseus

 

(A wie oder gleich O)

Damit entsteht ein Widerspruch zur obigen Aussage des Hippias („A besser als O“). Obwohl dieses Ergebnis in der Rezeptionsgeschichte des Hippias minor viel Kritik hervorgerufen hat, attestieren Forscher wie Roslyn Weiss (1981) und Michael Erler den Ausführungen des Sokrates innere Stringenz. Beide sehen im Beweisgang des Sokrates das wissensethische Konzept Platons aufscheinen. Erler schreibt daher: „Es muß festgehalten werden, daß die Argumentation im Hippias minor in sich schlüssig ist, wenn man die Wahrhaftigkeit des Achilleus und die Verlogenheit des Odysseus als die Folge einer Kenntnis in einem bestimmten [Befähigungs-]Bereich (téchnē) auffaßt, was in der Argumentation ja auch geschah. Beide sind sich in der Hinsicht ähnlich, daß sie fähig sind, mit Hilfe von Kenntnissen etwas zu tun“ (Erler 1987, 125). Sokrates verhielte sich demzufolge sehr rational hinsichtlich der logischen Gleichheitsproblematik.

Wir aber können dennoch Zweifel haben, ob die Gleichsetzung von A und O in der Sache gerechtfertigt ist. Absolute Gleichheit kann zwischen zwei Gegenständen nur bestehen, wenn sie absolut ununterscheidbar sind. Gleichheit gibt es also normalerweise immer nur ‚in Bezug auf etwas Bestimmtes‘. Wenn ich sage, dass ich jeden Morgen mit „demselben“ Bus fahre, dann meine ich nicht die Identität desselben Wagens mit einer bestimmten Herstellungsnummer der Produktionsfirma, sondern ich meine die Identität des Busses hinsichtlich der Aspekte Abfahrtszeit, Streckenverlauf, Haltestellen usw. Daher wählt Sokrates mit Blick auf die Beziehung der beiden Männer Achilles und Odysseus die Relation „ähnlich“ (hómoios) und meint damit ihre relative Gleichheit bezüglich bestimmter Fähigkeiten, die als Potenz in ihnen schlummern. Das ist das Gleichheitskriterium.

Hippias sieht diese Prämissen des ganzen Argumentationsganges nicht oder will sie nicht gelten lassen. Das Ergebnis erzeugt bei ihm irgendwie großes Unbehagen. Er beginnt zu klagen. Freilich gelingt es ihm dabei nicht, den problematischen Kern der sokratischen Argumentation ganz klar zu benennen. Die Gesprächspartner sind auf das Glatteis eines Trugschlusses geraten, das zumindest ahnt oder fühlt Hippias.

Mit in solchen Fällen immer wieder vorkommenden logischen Fallstricken und argumentativen Irrwegen hat sich Aristoteles in seinen Sophistischen Widerlegungen beschäftigt. In der 19. Widerlegung zum Thema ‚Ambiguität‘ hätte Hippias, wenn ihm der Text des in historischer Zeit zwei Generationen später tätigen Aristoteles zur Verfügung gestanden hätte, den richtigen Rat finden können: „Man muß also gleich anfangs auf Zweideutiges (diplūs) in Wort und Text erwidern, daß es in einem Sinne so ist, im anderen nicht, wie, daß man in einer Art schweigend reden kann, in anderer nicht, und daß man was sein muß, so verstehen kann, daß man es tun, aber auch so, daß man es nicht tun muß“ (177a; Übers. begrifflich leicht verändert n. Rolfes). Wortbezogene Doppeldeutigkeit nennt Aristoteles Homonymie, und Doppel- oder Mehrdeutigkeit in größeren Einheiten auf Satz- oder Textebene nennt er Amphibolie (was normalerweise mit Ambiguität übersetzt wird).78 Hippias hätte unter anderen Bedingungen seiner Geschichte auch das 25. Kapitel der Sophistischen Widerlegungen heranziehen können. Darin setzt Aristoteles auseinander, dass man Prädikate

  1. in einem allgemeinen Sinn (simpliciter) und
  2. in einem spezifischen Sinn (secundum quid = beziehungsweise)

anwenden kann. Im Hippias minor müsste eigentlich die zweite Variante geltend gemacht werden. Hier tauchen zwei spezifische Sinne von „tüchtig“ auf, nämlich „tüchtig“ in Bezug auf technische Fähigkeit und „tüchtig“ in Bezug auf ethische Haltung bzw. platonische Gutheit. Dass dies im vorliegenden Fall zum Problem werden kann, hängt mit der Nicht-Thematisierung der Homonymie von „tüchtig“ zusammen. Im Phaidros wird Platon dies später erörtern. Was unter Prädikaten wie „gut“ zu verstehen ist, sei Meinungssache. Es müsste daher auch im vorliegenden Fall zunächst einmal besprochen werden. Im Phaidros heißt es:

Sokrates: Wenn jemand das Wort ‚Eisen‘ oder ‚Silber‘ ausspricht, denken wir dabei nicht alle dasselbe?

 

Phaidros: Gewiß.

 

Sokrates: Wie aber, wenn ‚gerecht‘ oder ‚gut‘? Wendet sich da nicht der eine hierhin, der andere dorthin, und sind wir nicht uneinig untereinander und mit uns selbst?

 

Phaidros: Allerdings (Plat. Phaidros 263a).

Hippias sieht diese Problematik nicht und vergibt damit eine treffliche Einstiegsmöglichkeit in eine Gegenargumentation. Er hätte mit einem entsprechenden Einwand die Debatte zweifellos belebt und als antagonistischer Gesprächsorator versuchen können, seinerseits das Rationalitätsmanagement im Gespräch zu übernehmen.79

Doch Hippias konzentriert sich zunächst auf das Emotionsmanagement und macht seinem Unmut Luft. Erst dann geht er zu einer Metakritik über, d.h. Kritik am analytischen Vorgehen des Sokrates. Dieser argumentiere eklektisch, greife nur wenige Stellen heraus und ignoriere die gesamte komplexe Darstellung, die die beiden Figuren Achilles und Odysseus bei Homer erfahren, insbesondere den Gesamtzusammenhang ihrer Taten. Damit hat Hippias, ohne es im weiteren Verlauf ausmünzen zu können, durchaus einen wunden Punkt getroffen.80

Alles dreht sich letztlich um die Bedeutung der Begriffe „gut“ (agathós) und „besser“ (ameínōn). Was ist damit in Hinsicht auf Achilles und Odysseus gemeint? Geht es wirklich nur um fachlich-technische Befähigungen, potenzielle Kompetenzen, latentes Wissen, wie es Sokrates ganz eng fassen möchte und worauf er sich als Beurteilungskriterium festlegt? Oder geht es auch um deren Aktualisierung im sozialen Leben, wo Missbrauch der Fähigkeiten möglich wird, woraus man wiederum wichtige Rückschlüsse ziehen kann. Hippias jedenfalls hört bei Prädikaten wie „gut“ und „besser“ immer Anklänge an eine das Fachwissen überschreitende Wertebene bzw. moralische Dimension mit. Insofern kann Michael Erler (1987, 137) in seiner Analyse des Dialogs schreiben: „Da Hippias Einspruch gegen die Conclusio erhebt, muß man annehmen, daß er das Ergebnis von einem ‚populären‘ moralischen Standpunkt aus sieht. Das geht schon daraus hervor, daß Hippias das Wort ‚Unrecht‘ in die Diskussion einführt.“

Was Erler hier als lediglich „‚populären‘ moralischen Standpunkt“ bezeichnet, ist eine durchaus ernst zu nehmende ethische Position, die nach den Regulativen von Taten und der Art von Taten bei den Menschen fragt, eine Handlungs-und Verantwortungsethik postuliert und bei einem nicht weiter spezifizierten Wort wie „gut“ einfach im Raum steht. Man solle sich doch bitte einmal genau anschauen, wie Homer die beiden Männer in ihren Handlungen insgesamt darstelle, fordert Hippias in diesem Sinne, um ein Urteil über „gut“ und „besser“ zu fällen. Bei dieser Äußerung ist bemerkenswert, wie die im Verlauf des Dialogs erkennbare Ambiguität des ursprünglich adjektivischen Komparativs „besser“ (einerseits moralisch, andererseits technisch) hervortritt; Hippias nämlich parallelisiert das „Bessere“ der beiden Männer mit dem „Besseren“ der beiden Kommunikationsmodi, für die er selbst und Sokrates stehen:

Hippias: Denn auch jetzt, wenn du willst, will ich dir durch viele Beweisstellen in einer tüchtigen Rede dartun, daß Homeros in seinen Gedichten am Achilleus einen Besseren darstellt als Odysseus und ohne Falsch, diesen aber als listig und vieles erlügend und schlechter als Achilleus.

 

Wenn du nun willst, so stelle dieser Rede eine andere entgegen, daß jener der Bessere ist.

 

Dann werden die hier Anwesenden leichter erfahren, welcher von uns besser spricht (369c).81

Was also heißt hier „besser“? Hippias bietet mit diesen Worten eine Erweiterung und Verschiebung der gesamten Betrachtungsweise des Problems der Beurteilung beider Männer an. Er möchte – wie gesagt – in den konkreten narrativen Handlungsraum der Figuren gehen und ihr Verhalten in der homerischen Welt insgesamt überprüfen, um zu einem Urteil zu kommen. Dazu Erler unter Bezug auf den weiteren Fortgang und das Ende des Logos, also des Gesprächs: „Hippias’ Moralvorstellung ist offenbar nicht von einer Wissensethik bestimmt. Andernfalls hätte er nicht protestieren dürfen. Deshalb scheint ihm der Schluß des Logos paradox. Im Gegensatz dazu vertritt Platon eine auf Wissen beruhende Ethik, wobei es sich allerdings um eine besondere Art von Wissen handelt. Insofern aber auch bei ihm ein Wissen ausschlaggebend ist, bleibt die Analogie zu dem im Logos Vorgetragenen gewahrt. Von platonischer Warte aus läßt sich vermutlich auch der Streitpunkt lösen, ob Achill oder ob Odysseus besser sei. Zwar wird diese Frage im Dialog offen gelassen, aber Sokrates’ These, daß beide gleichwertig seien, wenn sie wissend und fähig sind, behält auch für Platon seine Gültigkeit“ (Erler 1987, 143).

Nun, die Philosophiegeschichte hat das mit Hippias vielfach anders gesehen. Selbst der Platon-Schüler Aristoteles hat sich den Hippias minor genau angesehen und kritisch kommentiert. Doch bleiben wir zunächst noch bei Hippias’ Verständnisproblemen. Wir hatten festgestellt, dass Gleichheits- oder Identitäts- und Differenzaussagen immer nur ‚in Bezug auf etwas Bestimmtes‘ gemacht werden können. Sokrates und Hippias haben Verständigungsschwierigkeiten, weil sie die Bewertungsprädikate „gut“ und „besser“ offensichtlich an unterschiedliche bzw. unterschiedlich viele Kriterien knüpfen (Abb. 2).

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Abbildung 2

Hippias und später auch Aristoteles würden sagen, dass sich das Prädikat „gut“ auf beide Qualitätsbereiche beziehen lässt. Gut ist demnach derjenige, der tüchtig zu etwas oder befähigt ist (daher werden kranke Menschen ausgenommen) und der zugleich im aktiven Handeln moralische Grundsätze walten lässt. So ist auch die aristotelische Kritik am ‚Hippias‘-Dialog zu verstehen. In seiner ‚Metaphysik‘ (V,29) definiert Aristoteles zunächst die Lüge: „Eine Aussage (ein lógos) aber ist falsch (pseudēs), wenn sie, insofern sie falsch, auf Nicht-seiendes geht. Darum ist jede Aussage falsch, wenn sie auf etwas anderes bezogen wird als das, wovon sie wahr ist, z.B. der Begriff des Kreises vom Dreieck ausgesagt wird“ (1024b). Mit Bezug auf den ‚Hippias‘ heißt es dann weiter: „Ein Mensch aber heißt falsch, wenn er zu solchen Aussagen geneigt ist und sie mit Vorsatz erwählt“ (1025a).

Damit spricht Aristoteles den defekten moralischen Habitus des Lügners an und thematisiert dabei als Kriterium die Absichtlichkeit, von der später noch die Rede sein wird. Aristoteles weiter: „Daher täuscht der im Hippias gegebene Beweis, daß derselbe (Mensch) falsch und wahr sei. Denn als falsch nimmt er den an, welcher Falsches beibringen kann, und dies ist der Kundige und Verständige“ (1025a). Aristoteles unterstreicht nun, dass es gewissermaßen zwei Bewertungstabellen gibt. Man muss eine rein technische Bewertung der potenziellen Fähigkeiten eines Menschen auf der einen Seite von der sittlichen Bewertung aufgrund von konkreten Handlungen auf der anderen Seite unterscheiden. Aristoteles: „Denn wenn jemand wirklich freiwillig hinkte, so würde er wohl, wie dies im Sittlichen (im ēthos) der Fall ist, auf diese Weise auch schlechter sein“ (1025a; Übers. n. Seidl). Das heißt: Nach der sittlichen Bewertungstabelle wäre der Täuscher mit dem Prädikat „schlecht“ und nicht mit „gut“ zu bewerten.

3 Der Weg in die Aporie (Dritter Teil des Dialogs)

Nach dem Protest des Hippias hätte Sokrates die Möglichkeit, umzuschwenken, und nun erst einmal Hippias zu Wort kommen zu lassen. Doch er entscheidet sich anders. Wenn er die Beweisziele 1–6 erreichen will, muss er das Heft in der Hand behalten und weiterhin die Diskussionsrichtung vorgeben. Vor allem will er Hippias um jeden Preis als den eingebildeten Weisen bloßstellen, wie der unverkennbar ironische Ton klar macht (369d–e). Sokrates bemerkt, dass ein Wechsel der Untersuchungsmethode zum Problem für seine Argumentationsstrategie werden könnte. Er treibt das Gespräch daher weiter voran, indem er neuerlich zur Provokation übergeht und Hippias noch einmal durch Schmeichelei in ironischem Ton dazu bewegt, weiter auf der vorgegebenen Gesprächslinie zu bleiben. Er macht freilich insofern eine Konzession, als er nun tatsächlich auch auf die Handlungen und Taten der Protagonisten Achilles und Odysseus im Homertext schaut. Damit folgt er der Anregung des Hippias, sich doch den beobachtbaren Fakten zuzuwenden, und kann gleichzeitig das Heft in der Hand behalten.

Jetzt möchte er Prädikate wie „gut“ oder „falsch“ also nicht mehr nur auf die Potenz, die Tüchtigkeit zum Lügen beziehen, sondern auch auf die tatsächlich stattfindenden Handlungen: Achilles belügt in Homers Geschichte seine Umwelt tatsächlich einmal. Damit ließe sich eigentlich ein eventuell doch noch auftretender Akzidenz-Fallazie-Vorwurf entkräften.82 Hippias jedoch interessiert sich nicht für die möglicherweise im Raum stehende Sophismafrage, sondern führt ein neues Kriterium ein: den böswilligen Vorsatz, zu lügen. Während Odysseus immer vorsätzlich und hinterlistig lüge, passiere dies bei Achilles irrtümlich und unvorsätzlich. Überall in der Welt aber würden diejenigen, „welche vorsätzlich etwas Böses tun oder lügen“ härter vom Gesetz bestraft (372a). Mit dem Begriff ‚Vorsatz‘ hat Hippias nun also explizit den menschlichen Willen in moralischer Hinsicht als eigenes Kriterium deutlich herausgehoben und vom bisherigen sokratischen Kriterium der bloßen technischen Geschicklichkeits- oder Wissenskompetenz unterschieden.

Man sollte erwarten, dass Sokrates in dieser Frage nun argumentativ zurückschlägt. Doch weit gefehlt. Er schweift ab und geht erst einmal auf die persönliche Ebene, um Abstand vom bisher Gesagten zu gewinnen, Hippias zu verunsichern und dann die letzte Beweiskette aufzubauen. Hier werden wir an Schopenhauers 18. Kunstgriff erinnert, der da lautet:

Merken wir, daß der Gegner eine Argumentation ergriffen hat, mit der er uns schlagen wird; so müssen wir es nicht dahin kommen lassen, ihn solche nicht zu Ende zu führen zu lassen, sondern beizeiten den Gang der Disputation unterbrechen, abspringen oder ablenken, und auf andre Sätze führen: kurz eine mutatio controversiae [Verschiebung der Streitfrage] zu Wege bringen (Schopenhauer 1830/31, 53).

Und bei Kunstgriff 29 heißt es:

Merkt man, daß man geschlagen wird, so macht man eine Diversion: d.h. fängt mit einem Male von etwas ganz anderm an, als gehörte es zur Sache und wäre ein Argument gegen den Gegner. Dies geschieht mit einiger Bescheidenheit, wenn die Diversion doch noch überhaupt das thema quaestionis [den Gegenstand des Streites] betrifft; unverschämt, wenn es bloß den Gegner angeht und gar nicht von der Sache redet (Schopenhauer 1830/31, 59).

Letzteres macht Sokrates in unserem Hippias II-Dialog. Sei er nicht emsig im Befragen eines Weisen, fragt Sokrates nun und eröffnet damit ein Meta-Gespräch über das Gespräch. Dies allein und keineswegs mehr sei als sein persönliches „Gutes“ (agathón) zu verbuchen. Dagegen entgehe ihm meistens, wie es um die Dinge selbst bestellt sei. Hippias und seinesgleichen würden demgegenüber ja zu Recht allerorten gepriesen. Er, Sokrates, aber erscheine nur als einer, der nichts weiß und erkennt. Sei es nicht ein Beweis seines Unverstandes, dass er in allen Fragen anderer Meinung sei als der sophistische Mainstream? Er schäme sich nicht zu lernen, zu forschen und zu fragen. Er sei dankbar für jede Antwort und lobpreise seine Lehrer. Er könne überhaupt nicht mit Hippias einer Meinung sein, doch das sei natürlich seine eigene Schuld, nicht die des Hippias. Er sei eben, wie er sei.

Hippias reagiert auf diesen scheinheiligen Wortschwall irritiert und ahnt sogar, dass hier ein ironischer Angriff ad personam vorliegen könnte, wie es Schophenauer im Unterschied zum Angriff ad hominem nennt (Schopenhauer 1830/31, 59f., 71f.). „Sokrates verwirrt einen immer im Gespräch“, sagt Hippias, „und tut recht wie einer, der auf Beleidigung ausgeht“ (373b). Sokrates führt also eine künstliche Zäsur im Gespräch herbei, um ironisch über sich und seinen Gegner, über sein eigenes angebliches Unvermögen und die angebliche Weisheit seines Kontrahenten zu sprechen.

Doch mitten in seiner Abschweifung kommt Sokrates plötzlich wieder aufs Thema zurück: Ihm scheine im Moment ganz das Gegenteil von dem, was Hippias sage, richtig zu sein, „daß nämlich, wer andern Schaden tut und sie beleidigt, belügt, betrügt und sonst sich vorsätzlich vergeht und nicht unvorsätzlich, besser ist, als wer unvorsätzlich“.

Und dann die Überraschung: „Bisweilen freilich dünkt mich auch wieder das Gegenteil davon, und ich schwanke also über die Sache, offenbar weil ich sie nicht weiß“, räumt Sokrates ein (372d). Das ist ein Hinweis an Hippias, dass es auf die Prämissen und die Bezüge ankommt, die in der Argumentation eine Rolle spielen, dass also sich die Konklusionen immer nur auf den im Textverlauf gesetzten logischen Rahmen beziehen und nur in diesem Rahmen ihre logische Gültigkeit beanspruchen können. Dementsprechend betont Sokrates nun ganz klar: „Jetzt nun in diesem Augenblick habe ich jenen Anfall bekommen, daß mich die vorsätzlich in etwas Fehlenden besser dünken als die unvorsätzlich.“83 Die

Stringenz des Gedankengangs ist also kotext- und kontextabhängig. Aufgrund der Kontingenzbedingungen des Gesprächs, die wesentlich am Gesprächspartner hängen, wird es für Sokrates als Orator in diesem Gespräch immer schwieriger, die eigene Position zweifelsfrei zu entwickeln. Er muss darauf hinweisen, dass sich die Schlussfolgerungen aus dem inneren Zwang des Gesprächsablaufs ergeben, der sich für ihn keineswegs als alternativlos darstellt. Daher bezeichnet er die Schlussfolgerungen teils als „Anfall“, teils als „Zufall“ und betont zugleich ihre Zwanghaftigkeit: „Ich beschuldige aber die bisherigen Reden (lógoi), an dem jetzigen Zufall Ursache zu sein, daß mir eben jetzt die, welche dies alles unvorsätzlich tun, schlechter erscheinen als welche vorsätzlich“ (372e). Ab jetzt kommt dieser Kotextverweis wiederholt aus Sokrates’ Mund: „Aber es zeigt sich doch so aus dem Gesagten“ heißt es an einer Stelle (375d), oder: „Aber es erscheint uns doch jetzt notwendig so aus unserer Rede“ (376b). Schlussfolgerungen hängen eben eng an den gerade gegebenen Prämissen.

Wir erkennen an diesen Stellen die Strategie des sokratischen Rationalitätsmanagements: Sokrates stellt Fragen und stellt Weichen, doch er führt nicht allein zu den Ergebnissen, sondern will diese – wie im echten Gespräch verlangt – als gemeinsame Leistung in den Wechselreden erarbeitet sehen. Ein kompetenterer Partner als der platonische Hippias hätte einwenden können, dass man bei Prädikaten, die für jede Art von Bewertung passen (wie z.B. „gut“), die gewissermaßen nur als die Bewertungsindizes oder Vorzeichen plus (+) und minus (–) fungieren, jedes Mal angeben muss, ‚in welchem Bezug‘ sie stehen. Man könnte auch sagen, dass hier stets die geltenden Restriktionsbedingungen angegeben werden müssen. Da das aber in unserem Gespräch nicht geschieht, entsteht am Ende Ratlosigkeit. Der für die virtuelle Welt dieses Gesprächs verantwortliche und in dieser possible world auch allmächtige Autor Platon will seinem Hauptprotagonisten Sokrates an dieser Stelle nichts anderes zuschreiben.

Hippias jedenfalls kann im Moment zu all dem nur sagen, dass er verwirrt sei. Immerhin bricht er das Gespräch an dieser Stelle aber auch nicht ab und beugt sich damit noch einmal dem Wunsch des Sokrates, der nun endgültig das Rationalitätsmanagement übernommen hat, in eine genauere Betrachtung und Untersuchung (in eine sképsis) der Freiwilligkeits- oder Vorsatz-Problematik einzutreten. Nun wiederholt sich das Frage-und-Antwort-Spiel in der aus dem zweiten Dialogteil bekannten Weise, jedoch unter anderer Fragestellung:

Sokrates: […] Nennst du einen Läufer gut?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Auch schlecht?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Nicht wahr, gut ist, der gut läuft, schlecht aber, der schlecht?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Und der langsam Laufende läuft schlecht, der geschwind Laufende gut?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Im Laufen also und für den Läufer ist die Geschwindigkeit das Gute, die Langsamkeit das Schlechte?

 

Hippias: Wie sollte es nicht.

 

Sokrates: Welcher ist nun der bessere Läufer, der vorsätzlich langsam läuft, oder der unvorsätzlich?

 

Hippias: Der vorsätzlich.

 

Sokrates: Heißt nun nicht Laufen doch etwas verrichten?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Und wenn verrichten, dann doch auch tun?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Wer also schlecht läuft, der tut Schlechtes und Unrühmliches im Lauf?

 

Hippias: Schlechtes. Wie sollte er nicht?

 

Sokrates: Und schlecht läuft der langsam Laufende?

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Der gute Läufer also tut dieses Schlechte und Unrühmliche vorsätzlich, der schlechte unvorsätzlich?

 

Hippias: So scheint es wenigstens.

 

Sokrates: Im Laufen also ist der nichtsnutziger, der das Schlechte unvorsätzlich als der es vorsätzlich tut?

 

Hippias: Im Laufen, ja (373c–e).

Wieder geht es um die Frage der schlechthinnigen oder aber beziehungsweisen Prädikation im Sinne der 25. aristotelischen sophistischen Widerlegung, nämlich um den Bezug auf einerseits eine technische Befähigung bzw. technisch perfekte Umsetzung einer Bewegung in der Handlung und andererseits ein bestimmtes menschliches Wollen (vorsätzlich/unvorsätzlich). Die Prädikate „gut“ (agathós) bzw. „besser“ sowie „schlecht“ (kakós) werden auf beide Aspekte bezogen und dann auch noch dem Gegenstand ‚Läufer‘ zugesprochen, der beide Merkmale aufweisen kann. Es folgt eine Reihe weiterer Beispiele nach demselben Muster, um die Frage der technischen Güte und der Güte des Vorsatzes in Verbindung zu diskutieren: Der Ringer, der vorsätzlich schlecht ringt, der körperlich Gesunde, der sich krank stellt, der Mensch beim schlechten Gebrauch guter Werkzeuge oder Waffen, der Heilkundige, der Steuermann und der Musiker, ja, Sokrates dehnt seine Überlegungen sogar aufs Tierreich aus. In all diesen Fällen ist es „besser“, so Sokrates, die Möglichkeit zu haben, freiwillig schlecht zu sein, als unfreiwillig, also gezwungenermaßen.

Aristoteles kritisiert genau diese Reihe aus unserem Hippias II in seiner Metaphysik mit den Worten: „Ferner setzt er [Sokrates im Hippias II] voraus, daß, wer freiwillig schlecht ist, besser sei als wer unfreiwillig. Diese falsche Annahme wird durch eine Induktion bewiesen“ (1025a). Es ist klar, dass die aristotelische Kritik wiederum bei der Ambiguität ansetzt, die durch das Fehlen einer genauen Referenz von „gut“ und „schlecht“ hervorgerufen wird. Eine Angabe von Referenz oder Perspektive macht die Prädizierung in dieser vom Gang des Dialogs aufgebauten Gemengelage erst durchsichtig: Wer nämlich den Lauf von Läufern als Schiedsrichter lediglich vergleichend mit der Uhr messen soll, wird das Prädikat „schlecht“ in anderer Hinsicht vergeben, als der Inhaber eines Boten- oder Kurierdienstes, dessen Läufer willentlich langsamer läuft, als er eigentlich kann, und dies eigentlich gemäß Vorschrift auch soll (womit er Geschäftsschädigung betreibt).

Wenn wir annehmen, dass Sokrates seinen Gesprächspartner aus Demonstrationsgründen der Hilflosigkeit überführen will, dann lässt er sich und ihn bewusst in die Falle gehen. Den möglichen Sinn dieses ganzen Argumentationsverfahrens erläutert Schopenhauer als 11. eristischen Kunstgriff:

Machen wir eine Induktion und er [unser Gesprächspartner] gesteht uns die einzelnen Fälle, durch die sie aufgestellt werden soll, zu; so müssen wir ihn nicht fragen, ob er auch die aus diesen Fällen hervorgehende allgemeine Wahrheit zugebe; sondern sie nachher als ausgemacht und zugestanden einführen: denn bisweilen wird er dann selbst glauben, sie zugegeben zu haben, und auch den Zuhörern wird es so vorkommen, weil sie sich der vielen Fragen nach den einzelnen Fällen erinnern, die denn doch zum Zweck geführt haben müssen (Schopenhauer 1830/31, 48f.).

Was bezweckt Sokrates mit seiner Induktion? Zunächst einmal nötigt die Beispielreihe Hippias, endgültig kleinlaut zuzugeben, dass er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht: „Arg wäre das aber doch, Sokrates, wenn die vorsätzlich Unrechttuenden besser sein sollten als die unvorsätzlich.“ Sokrates kann da nur auf den inneren Zwang des hier nun einmal gemeinsam eingeschlagenen Gedankengangs verweisen, aus dem man nicht mehr ohne weiteres herauskomme, zumindest Hippias nicht. Sokrates antwortet in diesem Sinne also: „Aber es zeigt sich doch so aus dem Gesagten“, und darauf Hippias: „Mir doch nicht“; Sokrates nun ironisch: „Ich glaubte doch, Hippias, es habe sich dir auch gezeigt“ (375d).

Sodann erlaubt die Beispielreihe Sokrates, jene Analogie herzustellen, die Aristoteles und Schopenhauer als Evidenznötigung per Induktion charakterisiert haben. Noch fehlt nämlich das letzte Glied in der Reihe, das als analog zu den anderen Fällen hingestellt werden soll. Sokrates beabsichtigt, das macht er nun deutlich, sein Schlussmodell auch auf die Ethik anzuwenden. Mit der Sittlichkeit verhält es sich genauso wie mit den anderen genannten Vermögen und Kompetenzen des Menschen. Auf diesen letzten Schluss zielt Sokrates ab.

Er kommt damit am Ende seiner Beispielreihe auch auf die menschliche Seele (psychē) zu sprechen. Wolle der Mensch nicht eine Seele, die möglichst „gut“ ist, fragt Sokrates. Da Hippias zustimmt, kann der nächste Schritt die Behauptung sein, dass es sich dann ja wohl bei der Seele so verhalte, wie bei jedem anderen menschlichen Vermögen (dýnamis), dem man das Prädikat „gut“ zusprechen könne. Demnach wäre diejenige Seele „besser“, die freiwillig Fehler macht. Und so verhält es sich letztlich auch mit dem moralischen Bewusstsein, für das der Begriff „Gerechtigkeit“ als Eigenschaft und Handlung des Menschen steht. Wer mehr an Erkenntniskraft besitzt, ist tüchtiger oder, modern ausgedrückt, ist fitter in Hinsicht auf sein moralisches Bewusstsein, daher besser, und kann bewusst und freiwillig schlecht handeln. Nun überstürzt sich die Konklusionenkette:

Sokrates: Und Unrecht tun heißt Schlechtes verrichten, nicht Unrecht tun aber Schönes?

 

Hippias: Ja

 

Sokrates: Also die tüchtigere und bessere Seele, wenn sie Unrecht tut, wird sie vorsätzlich Unrecht tun, die schlechtere aber unvorsätzlich?

 

Hippias: Es scheint.

 

Sokrates: Und der gute Mann ist doch, der die gute Seele hat, der schlechte aber, der die Schlechte.

 

Hippias: Ja.

 

Sokrates: Der gute Mann also wird vorsätzlich Unrecht tun, der schlechte aber unvorsätzlich, wenn doch der gute die gute Seele hat.

 

Hippias: Die hat er freilich.

 

Sokrates: Der also vorsätzlich fehlt und das Schlechte und Unrechte tut, o Hippias, wenn es einen solchen gibt, wäre kein anderer als der Gute (376a–b).

Sokrates hat Hippias die Zustimmung zu einer Kette von Aussagen nach Art von Prämissen abgerungen, die eine Parallele zu den tüchtig-wahr-falsch-Überlegungen vom Anfang des Gesprächs darstellen und an deren Ende eigenartige Konklusionen stehen (Abb. 3).

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Abbildung 3

Hippias könnte auch hier wieder im Interesse eines von ihm ausgehenden Rationalitätsmanagements einhaken, um dem zweiten Argumentationsdurchgang eine andere Wendung zu geben. Doch er durchschaut nicht die auch hier wieder auftretende Problematik, dass Prädikatisierungen und Schlussfolgerungen ohne die Formulierung von Reichweiten bzw. ohne Angabe von Restriktionsbedingungen eingeführt werden.

Wiederum könnte man explizit eine enge Beschränkung auf Urteile über Wissens- oder Fachkompetenzen als Rahmen in Betracht ziehen. Wenn man aber angesichts der Vieldeutigkeit der hier eingesetzten bewertenden Prädikate nicht ausdrücklich bestimmte Arten moralischer Urteile ausschließt, entsteht Konfusion. Intuitiv ist dies Hippias klar, und darum ruft er Sokrates empört zu: „Auf keine Weise kann ich dir dieses doch einräumen, o Sokrates.“ Und zu seiner und unser aller Überraschung pflichtet ihm Sokrates bei mit den Worten: „Auch ich nicht mir selbst, Hippias“; und dann kommt der schon erwähnte Verweis auf den vermeintlich inneren gedanklichen Zwang des gemeinsam entwickelten Gesprächsverlaufs, für dessen Imperfektibilität uns Lesern gegenüber natürlich der unfähige Hippias haftbar gemacht werden soll: „Aber es erscheint uns doch jetzt notwendig so aus unserer Rede“ (376b).

In seiner Analyse des Dialogs resümiert Michael Erler aufgrund seiner Einschätzung der Zielsetzung dieses Dialogs, dass Sokrates am Schluss zwar offensichtlich nicht zufrieden sei, gleichwohl verwerfe er das Ergebnis nicht. „Der Dialog endet also mit einer Verweigerung der Zustimmung (homología) des einen (Hippias) und der Verwirrung des anderen Partners (Sokrates). Das Gespräch ist gescheitert, und es bleibt Ratlosigkeit bei den Gesprächspartnern und wohl auch beim Leser. Bestehen bleibt ein Logos, der zwar in sich schlüssig ist, wie gezeigt werden sollte, der aber zu einem allem Anschein nach paradoxen Ergebnis führt. Man könnte geneigt sein, Sokrates für einen Amoralisten zu halten. Nicht zuletzt wegen dieses Eindruckes hat man den Dialog bisweilen Platon absprechen wollen oder hat doch zumindest seinen Gehalt nicht ernstgenommen.“ (Erler 1987, 131) – „Was in bezug auf die Sophisten als laienhaft zu sein scheint, macht in Wirklichkeit philosophisches Verhalten aus. Dieses manifestiert sich im Hippias minor vor allem darin, daß Sokrates im Unterschied zu Hippias dem Zwang des Logos Folge leistet. Anders als sein Partner, ist Sokrates nämlich bereit, die Konsequenz, die sich aus von beiden Partnern akzeptierten Prämissen ergeben hat, nicht sofort abzulehnen. Entsprechend dem im ‚Kriton‘ formulierten Grundsatz, daß ein einmal als richtig erwiesener Logos immer wahr bleibt (46 B 4), ist Sokrates nicht bereit, ohne weiteres das Ergebnis der Untersuchung als absurd beiseite zu schieben. Er akzeptiert es wenigstens vorläufig. Vielleicht ist eine Lösung doch möglich“ (Erler 1987, 133f.).

4 Schluss

Platons Hippias minor erlaubt uns zahlreiche Schlussfolgerungen und Ergebnisüberlegungen. Man kann sich ihnen unter zwei Perspektiven nähern: einer intrinsischen, die die textinternen Kommunikationen der uns nahegebrachten virtuellen Welt betrachtet, und einer extrinsischen, die das nach außen gerichtete Kommunikationsangebot Platons an seine Umwelt, vor allem aber auch an uns nachgeborene Leser, in den Blick nimmt.

Wenden wir uns zuerst der intrinsischen Perspektive zu. Was den Disput mit dem Protosophisten Hippias angeht, so kann sich Sokrates gegen Ende mit guten Gründen leicht zu dem Eingeständnis des Hin-und-Her-Gerissen-Seins herablassen. Er hat Hippias am Schluss gedanklich in die Aporie geführt bzw. hat die Aporie zugelassen, akzeptiert im gegebenen Fall auch für sich selbst das Schwanken, lässt dabei aber auch keinen Zweifel an seiner Überlegenheit und kann im Agon der Oratoren den Triumph für sich verbuchen. Alle erdenklichen Beweisziele sind erreicht: Hippias hat sich als unfähig erwiesen, die Fallen der Beweisgänge, die Sophismen und Doppeldeutigkeiten aufzudecken. Der Dialog steht gegenüber dem Monolog als grandiose Dekonstruktionsmethode da, Hippias’ These und damit der Kern seines großen olympischen Logos ist als gedanklich inkonsistent widerlegt. Das war das oben genannte siebte Beweisziel.

Sarkastisch stellt Sokrates die Sophisten ganz am Schluss in die Ecke. Dass er und mit ihm alle Ungelehrten, zu denen er sich ja vordergründig ironisch zählt, bei diesen schwierigen Fragen ins Schwanken geraten, das sei ja nicht gerade verwunderlich, sagt er; „wenn aber auch ihr schwanken wollt, ihr Weisen, das ist dann ein großes Unglück auch für uns, wenn wir nicht einmal bei euch zur Ruhe kommen können von unserm Schwanken“ (376c). Erler schreibt dazu: „Hilfe kann nur bringen, wer über eine wesentlich andere Art von Wissen verfügt als Sokrates’ Partner. In den Dialogen ist Sokrates der wahre Arzt. Doch verbietet die Regel, daß man immer dem Niveau des Partners angemessen sprechen muß, mehr über das wahre Wissen zu geben als Andeutungen, wenn man sich mit Sophisten unterhält“ (Erler, 1987, 133). Im Dialog kommt es also durchaus auch auf die Qualität der Gesprächspartner an, wenn das Ergebnis ein bestimmtes Niveau haben soll.

Sokrates unterwirft sich dem Gesprächsverlauf, der ja im echten Dialog von beiden Partnern getragen werden muss, verweist auch mehrfach darauf, dass sich die Schlussfolgerungen aus dem Stand der Erörterungen, also aus dem Textzusammenhang ergeben. Die Zweideutigkeiten und Zweiwertigkeiten haben sich im Text entfaltet. Darauf weist Sokrates hin. Eine Klärung wäre im Dialog durch ein Metagespräch („Was meinst du eigentlich…? Worauf beziehst du dich eigentlich…? “ usw.) möglich gewesen: „Als besonders wichtiges Mittel bei der Herstellung von Eindeutigkeit schlagen de Beaugrande & Dressler (1981, Kap. IX.18) in Fällen intentionaler Unentschiedenheit auch das ‚monitoring‘ durch andere Personen vor, also das gezielte Nachfragen und Evozieren von Klarheit im Dialog“ (Bauer et al. 2010, 19). Denn der Dialog ist „jene Kommunikationsform“, die der „Ambiguität am besten zu Leibe rücken kann“ (Bauer et al. 2010, 18), wenn man es mit den richtigen Gesprächspartnern zu tun hat. Ambiguität von Äußerungen, die sich als implizite Doppelreferenz im Kotext analysieren lässt, hat im vorliegenden Fall zu einer bestimmten Art von Textambiguität geführt. Pragmatisch gesehen, stellt sich Ambiguität, das zeigt Platons Dialog, immer als Interpretationsproblematik im Interaktionszusammenhang dar. Bei der kognitiven Verarbeitung entsprechender Strukturen des Textangebots (im vorliegenden Fall bewusst verzwickt gehaltener Referenzialisierungsmöglichkeiten) entstehen die Mehrdeutig keiten aufgrund von Hindeutungsoptionen. Hippias war nicht in der Lage, dies aufzudecken. Wäre Hippias wirklich jener kluge Kopf, für den ihn seine Umwelt hält, dann hätte er mit der Doppeldeutigkeitsproblematik anders umgehen und im Gespräch entsprechend intervenieren müssen.

Nun zur extrinsischen Betrachtungsweise. Die erste Frage lautet hier unter rhetorischer Perspektive, welche Botschaften Platon mit seinem Text in die Welt senden wollte. Zunächst denkt man da natürlich an die historische Welt, in der Platon und sein Text eine Rolle gespielt haben. Aus rhetorischer Sicht liegt es nahe, im Hippias II eine polemische Schrift gegen die Sophisten zu sehen. Erler schreibt, Sokrates habe sich auf deren „Niveau“ begeben und teile „deshalb die Verunsicherung der Vielen, die das Ergebnis amoralisch finden und es deshalb nicht zugeben wollen“ (Erler 1987, 133). Sokrates schlägt den Sophisten mit seinen eigenen Waffen, d.h. mit sophistischer Rabulistik, die am Ende alle Beteiligten selbst nicht mehr durchschauen. Immerhin kann sich auch Hippias mit der letzten Konklusion nicht abfinden. Wichtig aber ist als Botschaft an alle Leser, dass der Sophist sich als unfähiger Gesprächspartner erweist. Als Repräsentant der „Weisen“ hätte er die scheinbar streng logischen Gedankengänge des Sokrates auf andere Bahnen lenken müssen, um alles tragfähiger zu machen. Dazu war der im Gespräch ja als viel weiser apostrophierte Hippias nicht in der Lage. Sokrates lässt den Logos auf dem einmal eingeschlagenen Weg der logisch-dialektischen Rabulistik laufen, und am Ende steht die Aporie. Damit wird deutlich, dass ein Gespräch nur so gut ist, wie die daran Beteiligten gut sind, d.h. intelligent zur Sache sprechen können. Jedes Gespräch mag Oratoren haben, die ihre eigenen Ziele verfolgen, jedes Gespräch ist aber auch ein gemeinsames Projekt aller am Gesprächs-Gesamttext Beteiligten, wenn es denn ein Gespräch und nicht ein camouflierter Monolog oder das Parallellaufen zweier oder mehrerer Monologe ist. Im Gespräch gibt es eben nicht nur für jeden Orator einen Gegenorator, was zu den spezifischen Erschwernis- und Kontingenzbedingungen des Gesprächs zählt, sondern es gibt auch den direkten Kooperationszwang bei der Erarbeitung des Gesprächstextes. So ist jedem echten Gespräch eine Doppelstrategie unterlegt, eine oratorseitige und eine kollektiv-globale (Knape 2009, 17f.). Mit Blick auf Hippias II können wir hier an Schopenhauers Feststellung denken, dass sich der Begriff der Dialektik als Gespräch auf die „Gemeinschaft zweier vernünftiger Wesen“ beziehe, „die folglich zusammen denken, woraus sobald sie nicht wie zwei gleichgehende Uhren übereinstimmen, eine Disputation, d.i. ein geistiger Kampf wird. Als reine Vernunft müßten beide Individuen übereinstimmen. Ihre Abweichungen entspringen aus der Verschiedenheit, die der Individualität wesentlich ist, sind also ein empirisches Element.“ (Schopenhauer 1830/31, 77). Das ist in anderen, auf monologische Rede eingestellten Settings nicht in gleicher Weise so, auch wenn nach der Geschäftsordnung vielleicht vorgesehen ist (z.B. in einem Prozess), dass im Ablaufplan der Ereignisse nach dem ersten Monolog irgendwann ein Gegenorator seinerseits mit einem Monolog das Wort ergreift.

Des Weiteren können wir uns unter historisch-extrinsischer Perspektive fragen, ob die in unserem Dialog steckende Kritik (nach Art einer Invektive) beim Publikum wohl gut ankam. Wir wissen es nicht genau. Die attackierte Gruppe jener, die sich zu Platons Zeit als Weise, Lehrer und Rhetoren bezeichneten und denen gegenüber Sokrates sich im Dialog als Laie darstellt, dürfte jedenfalls nicht unbedingt amüsiert gewesen sein. Die meisten der sich unter den Zeitgenossen zu den Sophisten Zählenden haben vermutlich nicht so souverän auf Platons Polemiken reagiert, wie es sich der Schriftsteller Christoph Martin Wieland im 18. Jahrhundert vorgestellt hat. In einem späten Roman, dem 1800/1801 erschienenen ‚Aristipp‘, einem fiktiven Briefwechsel unter antiken griechischen Denkern der Zeit um 400 vor unserer Zeitrechnung, lässt Wieland auch unseren Hippias zu Wort kommen. In dessen Brief an Aristipp von Kyrene lässt er seinem Unmut über jene Dialoge Platons, in denen er selbst vorkommt, freien Lauf:

Wie ich höre giebt der grosse Aerobat [Luftwandler] Plato den Athenern und ihren Nachbarn mächtig viel von sich zu reden, und publiciert eine Menge filosofischer Possenspielchen, worin er den ehrlichen Sokrates (der jetzt alles ungestraft aus sich machen lassen muss, wozu man ihn brauchbar findet) bald mit diesem bald mit jenem unsrer ehmahligen Sofisten in eine possierliche Art von dialektischen Zweykämpfen zusammen hetzt. Denn, damit sein Sokrates immer Recht behalte, oder doch wenigstens die Lacher auf seine Seite bekomme, begabt er ihn über seine gewohnte Ironie und die ihm eigene Art seine Gegner zu überraschen und in Verlegenheit zu setzen, noch mit aller nur ersinnlichen eristischen [also im Gespräch mit Tricks arbeitenden] Spitzfündigkeit und Gewandtheit, die armen Schelme von Antagonisten hingegen mit einem so erbärmlichen Grad von Geistesschwäche und treuherziger Dummheit, dass sie immer ihr Äusserstes thun, um jenem den Sieg recht leicht zu machen, und, weit entfernt zu merken dass er ihrer spotte, durch Paarung der lächerlichsten Aufblähung mit der schülerhaftesten Unwissenheit und dem blödsinnigsten Unverstand, ihm eine Gelegenheit nach der anderen geben, sie mit der schmählichsten Art von Urbanität [Esprit] zum Besten zu haben. Auch mir Unwürdigen hat er zweymahl diese Ehre erwiesen; vermuthlich weil er nicht weiss, dass ich allein die todten Löwen Protagoras, Prodikus, Gorgias u.s.f. mit welchen es ihm jetzt so leicht wird den Herkules zu spielen, überlebt habe. Aber auch vor meiner Rache kann er sicher seyn; denn ich bin ihm zu viel Dank für die gute Digestion [Verdauung] schuldig, die mir sein Hippias der Grössere gestern Abends nach einem grossen Gastmahle verschafft hat. In meinem Leben hab’ ich nicht so viel gelacht, wie über die Rolle, die er mich in diesem schnackischen Ding von einer dialektischen Schulübung spielen lässt. Man sollte denken, er habe die Wolken des Aristofanes zum Muster genommen, wie man es anfangen müsse, um ein ordentliches Menschengesicht zu einer fratzenhaften Larve zu verzerren. Das lustigste ist indessen, dass der Leser immer im Zweifel bleibt, wen der filsosofierende Spassvogel eigentlich am lächerlichsten habe machen wollen: ob den guten Sokrates, der hier als das Ideal eines naseweisen attischen Spitzkopfs erscheint, und meinen blödsinnigen Repräsentanten (den er bloss einem Arzt zu einer tüchtigen Porzion Niesewurz hätte zuweisen sollen) lieber zur Kurzweil in einem aus Spinnenweben gewebten Netze fangen will? oder den armen unbeholfenen Afterhippias, der sich aus einem dünnfädigen Netze nicht herauszufinden weiss. – Und mit solchen Schnurrpfeifereyen hofft euer Plato den Homer aus den Schulen der Griechen zu verbannen! (Wieland 1801, 76–78)

Zweifellos lässt sich diese fiktive, von Wieland mit viel Humor und Einfühlung formulierte Kritik des historischen Hippias an seiner platonischen Einverleibung auch auf den uns interessierenden Kleineren Hippias beziehen. Und der fiktive Aristipp-Brief hätte sogar Anleihen bei Platon selbst nehmen können, in dessen Euthydem sich über die mit Mehrdeutigkeit spielenden Argumentationskünstler folgende Bemerkung findet:

Dergleichen nun ist in der Beschäftigung mit Kenntnissen ein Spiel; darum sage ich auch, daß diese mit dir spielen. Spiel nenne ich es aber deshalb, weil, wenn einer auch vieles und alles dergleichen lernte, er doch von den Gegenständen selbst um nichts besser wüßte, wie sie sich verhalten, sondern nur geschickt sein würde, sein Spiel mit anderen zu treiben, indem er ihnen durch die Vieldeutigkeit der Worte ein Bein unterschlagen und sie umwerfen könnte; wie wenn jemand einem, der sich setzen will, den Sessel unten wegzieht und sich dann freut und lacht, wenn er ihn rücklings hinfallen sieht (Plat. Euthydemos 278b–c).84

Eine weitere, bei der extrinsischen Betrachtung auftretende Frage ist die nach den fachlich-systematischen Theorieangeboten des Textes. Heutige Rhetoriker interessiert dabei ganz besonders, wie sich die in unserem Hippias-Dialog entwickelten Modellvorstellungen, vor allem in Bezug auf rhetorische Ansätze, etwa die Frage nach Monologismus und Dialogismus, in die moderne Theorie integrieren lassen.

Wir können in Michael Erlers Heraushebung der Augenblicksgültigkeit des sokratischen Beweisgangs einen Hinweis auf das für jedes Gespräch konstitutive Infinitheits-Merkmal sehen. Dies gilt insbesondere für das philosophische Gespräch, in dem es um eine thésis (eine allgemeine Fragestellung geht). Die Punktualität des Gesprächsgeschehens erlaubt letztlich keine wirklich endgültigen Problemlösungen, macht zumindest philosophische Gespräche prinzipiell unabgeschlossen. In der praktischen Welt kommt ein Gespräch nur zum Abschluss, weil pragmatische Settingbedingungen Grenzen setzen oder weil es nur um finite Fragen geht. Zu jeder Sache gibt es im Gespräch die prinzipielle Möglichkeit, dialogische Anschlussoperationen und Fortsetzungen zu finden. Die philosophische Schule der Skeptiker wird daraus in historischer Zeit nach einigen Jahrzehnten ihre erkenntniskritischen Konsequenzen ziehen. Dass Platon seinen Hippias II in der Sache signifikant unabgeschlossen lässt, verweist uns auf diesen Zusammenhang.

Von den Besonderheiten der Oratorposition im Gespräch und den erschwerten Persuasionsbedingungen eines bestimmten Orators unter dem dialogischen Kooperationszwang war schon die Rede. Es bleibt noch der Hinweis auf eine spezifische Paradoxie der platonischen Dialoge als Texteinheiten, als die sie schon in der Antike verbreitet wurden. Es ist paradox, dass ausgerechnet der Feind der Schriftlichkeit und damit der Dimissivität in genau dieses Basissetting eintritt und damit dann eben doch – und das ist wichtig – den monologischen Kommunikationsmodus wählt. Damit erfüllt Platon ebenfalls ein zentrales Kriterium des Monologismus: die Abgeschlossenheit, und damit die Entschiedenheit des Textes in vielerlei Hinsicht. Im vorliegenden Text ist es die Entschiedenheit für die Unentschiedenheit, für die sich der Autor Platon als Orator entschieden hat, denn er ist – wie immer im Monologismus (auch das ist ein Kriterium) – der alleinige Herr über seinen Text. Der französische Schriftsteller Albert Camus bringt das 1951 auf die Formel: „Wer schreibt, ist immer schon entschieden“ („Écrire, c’est déja choisir“).85 Zur Rhetorik wie zum rhetorischen Monolog gehören die innere Gewissheit (das Zertum) und die innere Entschiedenheit (die Prohairesis), die für den Moment der Rede gelten (Knape 2012a, 73, 76). In ihnen zeigen sich die in der Kommunikation hervortretenden Verhaltensdispositionen des Orators. „Der Charakter ist das“, heißt es in der aristotelischen ‚Poetik‘, „was die prohaíresis [die Entschlossenheit oder Neigung, Tendenz oder bewusste Absicht] und deren Beschaffenheit zeigt. Daher lassen diejenigen vorgetragenen Redetexte (lógoi) keinen Charakter (ēthos) erkennen, in denen überhaupt nicht deutlich wird, wozu der Redende neigt oder was er ablehnt“ (Arist. Poetik 1450b 8ff.; Übers. begrifflich leicht variiert n. Fuhrmann).86

Ganz am Ende des ‚Kleineren Hippias‘ steht zwar nicht das Wort aporía (Zweifel), aber doch, wie gesagt, der Ausdruck plánē für die Unsicherheit, das Schwanken, Irren, Verirren und Herumirren. Wenige Zeilen davor findet sich jenes Bedauern des Sokrates, dass rhetorisch orientierte Sophisten wie Hippias, die er ja ironisch die Weisen nennt, in ihrem Erkennen eben auch schwanken. Rhetorik ist die kommunikative Methode, im praktischen Leben unter Entscheidungsdruck die Gründe für eine bestimmte Entscheidung plausibel zu machen, die Adressaten aus einer unklaren Bewusstseinslage in eine innere Entschiedenheit zu führen. Bei wem, so fragt Sokrates nun, kann man denn dann überhaupt noch zur Ruhe kommen, wenn selbst der so gerühmte Redner versagt?

Im Gespräch gelingt dies offenbar nicht ohne weiteres, schon gar nicht bei einem Sophisten wie dem platonischen Hippias. An sich kann die monologische Kommunikation, auch die des literarischen platonischen Dialogs, durchaus Klärungsangebote machen. Für den Moment der monologischen Rede wird entschiedene Gewissheit angeboten, auch wenn sich hinterher im Nachgespräch vielleicht herausstellt, dass alles nur Scheingewissheit war. Das führt uns der Hippias II-Dialog vor, indem er die im monologischen Auftritt exponierte These des Hippias dekonstruiert. Die Rede ist also der im praktischen Leben unumgängliche Versuch, wenigstens etwas augenblicklich wahrscheinlich zu machen. Dabei bleibt Gewissheit aber etwas Ephemeres; wie der Moment der Rede und der Moment der Entscheidung geht sie vorüber. Bei philosophischen Fragen muss man sich sowieso im Klaren darüber sein, dass alles Erkennen nur vorläufig ist. Und doch: Alle sollen und können die Argumente wenigstens für die kurze Zeit des Kommunikationsgeschehens prüfen, sich vielleicht sogar einen Moment lang entscheiden.87 Freilich muss der Orator redlich sein. Insofern würde man Hippias Unrecht tun, wenn man ihm heute den Vorwurf machte, die ihm in der Theorie natürlich unbekannten Grice’schen Konversationsmaximen nicht beachtet zu haben (Grice 1967). Er hat im olympischen Wettbewerb und auch im Gespräch zweifellos nach Maßgabe seines Wissens und Vermögens argumentiert. Natürlich kann das weder einem Sokrates noch uns Lesern genügen. Wir müssen darauf hoffen, dass es im nächsten Gespräch über die angeschnittenen Themen anders und besser zugeht.

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